38 KINDER- UND JUGENDBÜCHER Mittwoch, 2. Oktober 2019
Erst tüchtig bechern und dann denBären schiessen!Dasist die falscheReihenfolge,findet Annie in Lotte BräuningsBilderbuch. LOTTE BRÄUNING /ATLANTIS-VERLAG
Schnapsnasen schiessen keine Bären
InBilderbüchern lebt der Western wiederauf. Und er wirdbei der Gelegenheit genüsslichzerpflückt
MANUELA KALBERMATTEN
Gesoffen wird in Kinderbüchern heute
ja eher selten.Dabei war der fröhliche
Rausch imKulturgut für dieJüngsten
einst gar nicht sorar – man erinnere
sich etwa an den «Käpt’n Hinkebei»
des Schaffhauser Liedermachers Dieter
Wiesmann, der sich auf See ganz gern
einen «Kafi Güx» genehmigte.Aber das
war1977.Wo Zigaretten durch Gras-
halme ersetzt wurden, trinkt Mann statt
Alkohol heute Apfelschorle. So zumin-
dest will es der «Hinweis des Ministe-
riums für Hinweise», der Lotte Bräu-
nings hinreissend hintersinnigem Bil-
derbuch «Annie und dieBärenjäger»
vorangestellt ist.
Oakleys treffsichereSchwester
Weil aberdie Geschichte,sodas Minis-
terium weiter,«vor etwa150 Jahren»
spiele, lägen die Dinge anders. Das sieht
man den blutunterlaufenenAugen der
dreiKerle, die auf ihren müden Gäulen
gen Saloon traben, auch an.WoWies-
mann den «SheriffNepomuk» noch
«Himbeersirup gsprützt» trinken liess,
bestellen sich der starkeJack, der kurze
Freddy und der dürreSlim sogleich eine
Flasche Hochprozentigen.
Gebracht wird der Whiskey voneinem Mädchen mit Schürze, Hut undReitstiefeln. Es sagt während der gan-zen GeschichtekeinWort, wird imText
nicht einmal erwähnt. Umsospeditiver
arbeitet es in den aufAquarell gezeich-
netenFarbstiftbildern seinem Ziel ent-
gegen.Während sich die drei betrunke-
nen Cowboys mit Strategien überbie-ten, wie ein zur Belohnung ausgesetz-terBär fachmännisch zu erlegen (unddie verdiente Summe inWhiskey um-zumünzen) sei,schnappt sichdieKleine
Jacks Flinte.
Laut demTitel heisst sie Annie, und
siebleibt ihrem historischenVorbild, der
Kunstschützin AnnieOakley, hinsicht-lichTr effsicherheit nicht das Geringste
schuldig: Kaum liegen die drei Maul-helden unter demTisch, schleppt sie den
flugs erlegtenBären an.Das ist zwarauch so etwas, was man gemäss demMinisterium für Hinweise nicht mehrtut:Bärenschiessen.Wirsind abernun
einmal imWestern. Der feiert im Bil-derbuchein glorreichesComeback. Und
geht dabeirecht selektiv mit denRe-geln derPolitical Correctness, des Gen-
res und der sogenannten Kindgemäss-heit um – nicht nur in Sachen Gross-wildjagd, Gender-Mainstreaming undFeuerwasser.
Die Kombination aus Nostalgie,Wandelbarkeit und selbstreferenziellem
Spiel, die wesentlich dieLanglebigkeitdesWesterns garantiert (hat), ist auchden neuen Büchern eingeschrieben.So
konsequent sie mit den Mythen undHeroisierungen der Gattung brechen, so
spürbarist doch dieFaszination für die
Motive und Schauplätze, die denWes-tern zum ästhetischen Erlebnis machen.
Banditen im Kindergarten
Bräuning adaptiert Strategien filmi-schen Erzählens, wenn sie ihreFiguren
in perfekt dramatisierten Sequenzen in
einer liebevoll inszeniertenWildwest-Welt agieren lässt – und dabei klug die
Bedeutungen verschiebt.Ineiner gross-
artigarrangierten Komposition etwaübertönen sich die Cowboys imTextgegenseitig mit sinnleeren Fachsimpe-leien.Das Bild aber gehört Annie:Aus
derPerspektive einer schrägenAufsicht
wird gezeigt, wie sie, die Flinte über der
Schulter, den Saloon verlässt und dabei
effektvoll ins Licht tritt, das aus demHaus in die Nacht hinausfällt.
Bilderbuchkünstler Ole Könneckewiederum nutzt dieÄsthetik vonPenny
Dreadfuls undFilmplakaten, um einekindliche Allmachtsphantasie in Szenezu setzen. Sein Held ist der kleineRoy,der jedenTag auf seinem weis-sen Pferd, dem titelgebenden Despe-rado, in den Kindergartenreitet. Dortgefällt esRoy, des Spiels, des Safts (!),
derKekse und nicht zuletzt der Erzie-
herin Heidi wegen: «Sehr, sehr nett.»Dass bei so viel frühkindlicherWohl-erzogenheit eineBanditenbande einfal-
len und Heidizwecks Zwangsheirat mit
dem (lesenden) Obergangster entfüh-ren undRoy zu ihrerRettung ausrei-ten muss, ist vor dem Hintergrund der
auf dem Cover deklarierten Gattungs-tradition verständlich.
DerWestern dient hier aber nichtals (letzte) Grössenphantasie überpro-tegierterJungen im weiblich dominier-
ten Bildungssystem. Vielmehr nutzter das ausgelassene Spiel mit pädago-gischen Zitaten und den gegen denStrich gebürstetenWestern-Motiven,um die Phantasieräume des Einzelnenin einer bisweilen arg verplantenWeltzu zelebrieren.
Lotte Bräuning: Annie und die Bärenjäger.
Atlantis, Zürich2019. 32 S., Fr. 25.– (ab
5Jahren).
Ole Könnecke: Desperado. Ein Western.
Hanser, München 2019. 36 S., Fr. 24.– (ab
4Jahren).
Jesus
in der Badewanne
Sovergnüglich
kanneinMuseumsbesuch sein
ROMAN BUCHELI
Die kleine Alma ist ja ganz schönaufgeweckt. Als die Grossmutter sieins Museum mitnimmt,sagt sie ihretwas tantenhaft belehrend, es brau-che drei Dinge im Museum: die rich-tigen Schuhe,guteAugen und genugZeit. Drei Dinge? Seit wann denn dieZeiteinDing sei, will Almakeck wis-sen. «Schlaumeierin»,antwortetdieGrossmutter. Und gleich merkt man:Da haben sich zwei Schlaumeierin-nen gefunden, die sich nichts schuldigbleiben.Auf ins Museum also,doch kaumdrinnen, hält die Grossmutter eineÜberraschung bereit.Almamuss allein
durch dieRäume gehen, aber erst sollsie denWärter dort im ersten Saal ein
wenig ablenken, denn die Grossmut-ter will hinterrücks in eines der Bilder
springen. Natürlich glaubt ihr Almakein
Wort,aberweil es ihr Spass bereitet, hält
sie denWärter eineWeile zum Narren.
Und schon ist Grossmutter verschwun-
den – und meldet sichgleichüber dieKopfhörer, die Alma inzwischen aufset-
zen musste.
So führt sie das Mädchen durch die
Säle, erklärtihr, warum Hiob vomTeu-
fel gequält wird, was einJüngstes Ge-richt ist und dassJesus nicht in einerBadewanne, aber in einem steinernenSarg liegt. Und gelegentlich mischt siesich unter die Figuren der Bilder, undAlma muss sie dann finden. Der gross-
artige Zeichner Nikolaus Heidelbachtreibt sein wunderbaresVersteckspielmit wirklichen Bildern aus demKölner
Wallraf-Richartz-Museum.
So wird der Gang mit Alma durchsMuseum zu einem vergnüglichen Such-
spiel, bei dem man ausserdem allerhand
über dieKunstgeschichte erfährt: kleine
Respektlosigkeiten und deftige Seiten-
hiebe eingeschlossen.
Nikolaus Heidel bach: Alma und Oma im
Museum. Beltz & Gelberg, Weinheim2019.
48 S., Fr. 24.90 (ab 6 Jahren).
NIKOLAUS HEIDELBACH / VERLAG BELTZ & GELBERG
Ohne Worte ist die Landschaft leer
NinaLaCourerzählt vonGeschichten,die wir zum Leben brauchen
MANUELA KALBERMATTEN
Ein neuesLeben, eine andereWelt, eine
verschneiteLandschaft in Upstate New
York: Marin hat abgeschlossen mit San
Francisco, den Möwen, Sanderlingen und
Surfern am Strand, mit denRedwood-
Bäumen, die sich zu fünft kaum umfas-
sen liessen, und dem Haus, in dem sie
mit ihrem liebenswürdig verschrobenen
Grossvater gelebt hatte. Denn dieser
Grossvater hatte Geheimnisse,die,das
erfährt Marin in der Nacht seines Selbst-
mords, das gemeinsame Leben in ein
anderes Licht rücken. Deshalb die Flucht
auf die andereSeite desKontinents und
dieWeihnachtsferien,die Marin allein
imWohnheim ihres Colleges verbringt:
«DieBäume hier, draussen unter dem
Schnee, habe ich noch nie umarmt. Hier
ist meine Geschichte erst drei Monatealt. Besser, ich bleibe in der Gegenwart.»
NinaLaCours «Alles okay» ist einRoman wie ein Gemälde, das zunächst
mit seiner Schönheit überwältigt,seine
Untiefen und Strömungen aber erst im
langen Betrachten enthüllt. Zwischenden hartenKontrasten von kaliforni-schem Sommer und NewYorkerWin-te r, zwischen Nähe und Isolation lotetdieAutorin in zartenFarben dieFacet-
ten vonVerlust, Erinnerung und Erzäh-
lenaus.Vor allem aber erkundet sie, was
es heisst, in einer Gegenwart zu leben,
die von derVergangenheit heimgesucht
wird, ohne sie aber auch nicht lebbarwäre: weil der Mensch zum Leben Ge-
schichte(n) braucht.
Mabel, aus Kalifornien angereist, um
ihreFreundin nach Hause zu holen, er-
innert Marin hartnäckig daran. In einer
Schlüsselszene betrachten die beidenFrida Kahlos Bild «Die zweiFridas»,und Marin sinniert über die Bedeutung
der blutendenVene, welche die Herzen
der heilen und der verletztenFridaver-
bindet. Ob sie über sich selberrede, will
Mabel wissen. «Nein», sagt Marin. «Ich
meine doch – ich weiss, wie sie sich fühlt.
Aber ichrede nicht über mich.Ich sehe
mir nur dein Bild an.» Manchmal ist das
genug: offenzulassen, was ein Bild, einBuch bedeutet.Für Marin aber wird ge-
nau diese Offenheit zur Einladung, ihre
Geschichte zu erzählen – und weiterzu-
schreiben.
Nina LaCour: Alles okay. Aus dem Englischen
von Sophie Zeit z. Hanser, München 2019.
204S., Fr. 26.– (ab 14 Jahren).
Hilfe, ich bin ein Käfer
Kafkas«Verwandlung» wirdmit Witz verwandelt
MARION KLÖTZER
Franz Kafkas Parabel «DieVerwand-lung» alsVorlage für ein Erstlesebuch?
Das passt ja gar nicht! Zu hoffnungs-los erscheint das Schicksal jenes Gre-gor, der über Nacht zum riesigen Käfer
mutiert.Dasselbe passiert inLawrence
Davids Geschichte dem gleichnamigen
Zweitklässler, und nicht weniger grossist seineVerzweiflung. Hier aber gibt es
viel Liebe – und ein Happy End. Erzählt
wird mit viel Situationskomik. Denn wie
soll man sich ein Hemd für die Schule
anziehen, wenn man lauter Beine hat?
Wie fühlt man sich, wenn ausser dembestenFreundkeiner merkt, dass mannun ein «Carabus problematicus» ist?Gregor hängt bald mutlos von der Zim-
merdecke, wirdaber mit einem inbrüns-
tigen«Wir werden dich immer liebha-ben. Ganz egal ob du einJunge oder ein
Käfer bist»indie elterlichen Arme ge-
schlossen. Und so ist am nächsten Mor-
gen alles wieder gut.
Kongenial bebildert DelphineDurand
die Geschichte überFremd- und Selbst-
wahrnehmung, über das Anderssein
und Einander-Zuhören. Lustig-flächige
Comicfiguren tummeln sich in gedämpft
farbigen Szenarien und krummenPer-
spektiven.Das Künstlerduo bürstet so
den Klassiker mitWitz gegen den Strich,
ohne ihn zu verwässern.
Lawrence David (Text) / Delphine Durand (Illus-
tration): Hilfe, Gregorist plötzlich ein Käfer!
Aus dem Englischen von WolframSadowski.
Beltz & Gelberg, Weinheim2019. 62 S., Fr.
16.– (ab 7 Jahren).