Mittwoch, 2. Oktober 2019 INTERNATIONAL
Modi beschwört den Mahatma
Indien feiert Gandhis 150. Geburtstag – das Verhältnis d er Regierung zum Vorkämpfer der Unabhängigkeit ist aber widersprüchlich
Premierminister Modi hält den
indischen Nationalhelden hoch.
Doch mancheLandsleute
sehen dieWerte, für die der
Mahatma eintrat, gerade
durch dieRegierung bedroht.
JUDITHKORMANN, DELHI
Der Pfad,auf dem Mahatma Gandhi die
letzten Schritte ging, führt von einem
imposanten Haus in einen Garten. In
Beton gegosseneFussabdrücke zeich-
nen denWegnach.Sie enden vor einem
steinernenPavillon. Hier, inmitten eines
vornehmenAnwesens im Zentrum von
Delhi, nahm Gandhis Leben vor gut 70
Jahren ein jähes Ende. Heute sind das
Haus, in dem Indiens Unabhängigkeits-
held vor seinemTod unterkam, und der
Garten,in dem er erschossen wurde,Teil
der Gedenkstätte Gandhi Smriti.
Es ist ein friedlicher, besinnlicher Ort,
ein Pol derRuhe mitten in der hekti-
schen Metropole. Die Stelle, an der Gan-
dhi zu Boden sank, ist mit einem Git-
ter umzäunt. ImPavillon erinnert eine
Säule an seinenTod. Der Andrang von
Besuchern ist nicht riesig, doch immer
wiederkommen Leute vorbei.Touris-
ten machen vor dem Denkmal Selfies
und ziehen wieder ab.Auch Inder las-
sen sich hier fotografieren, doch sie ver-
weilen länger.
«In letzter Zeit haben wir recht
viele Besucher», sag t ein Mitarbeiter
der Gedenkstätte. «Das liegt amJubi-
läum.» DieserTage feiert Indien den
- Geburtstag seines Nationalhelden.
Am 2. Oktober1869 wurde Mohandas
Karamchand Gandhi in derKüstenstadt
Porbandar geboren.DenTitel Mahatma,
«grosse Seele»,unter dem er heuteweit
bekannter ist als unter seinem Geburts-
namen,erhielt er erst imLaufe seines
Lebens. Inder nennen Gandhi auch
li ebevoll «Bapu», Vater der Nation.
Weltwei t gilt der zierliche Mann mit
Nickelbrilleals Verfechter der Gewalt-
losigkeit. Sein friedlicher Protest inspi-
riertePersönlichkeiten wie Nelson Man-
dela und Martin Luther King.
In Indien ist Gandhis Geburtstag
ein nationalerFeiertag. Anlässlich des
- Jahrestages hat Premierminister
Narendra Modi ein grosses Programm
geboten.Fussmärsche zu Ehren Gan-
dhis sollen organisiert werden.Aktivitä-
ten wie Strassenspiele undWissenswett-
bewerbe finden statt.Auch am Sitz der
Vereinten Nationen in NewYork hielt
Modi einen Gedenkanlass ab.
ZwiespältigesVerhältnis
Doch dasVerhältnis in ModisLager
zu dem einstigen Unabhängigkeitsver-
fechter ist umstritten.Kritiker sehen die
Prinzipien,für die sich Gandhi einsetzte,
von der heutigen Regierung verra-
ten. Sie werfen Modi und seiner hindu-
nationalistischen BharatiyaJanata Party
(BJP) vor, Spannungen zwischen Hindus
und Muslimen imLand zu schüren und
Indien zu einer Nation für Hindus ma-
chen zuwollen. Gandhi hingegen trat
für ein säkulares Indien und ein fried-
liches Zusammenleben allerReligions-
gruppen ein. Einigen Hindu-Nationa-
listen war er deshalb zu Lebzeiten ein
Dornim Auge. «Gandhi war ihnen ge-
radezu verhasst»,sagt Sucheta Mahajan,
His torikerin an derJawaharlal-Nehru-
Universität in Delhi. «Sie sahen in ihm
ein Hindernis darin, einereine Hindu-
Nation zu werden.»
Als Britisch-Indien1947 die Unab-
hängigkeit erlangte, forderte die Mus-
limliga unter derFührung von Muham-
med Ali Jinnah ihren eigenen Staat. Es
kam zurreligiös bedingten Spaltung des
Kolonialgebiets in Indien undPakistan.
Ausschreitungen zwischen Hindus und
Mus limenkosteten damals Hunderttau-
sende von Menschen das Leben.Gandhi
machte sich gegen eineTeilung des Sub-
kontinents stark, akzeptierte diese aber,
als sie unausweichlich wurde.
In Indien setzte er sich für gleiche
Rechte allerReligionenein. Dieses Prin-
zip lebte er auch im Alltag. Bei seinen
Gebeten las er nicht nur aus der Gita,
einer der heiligen Schriften der Hindus.
Er sprach auchVerse aus demKoran.
Das gefiel nicht allen. Als sich Gandhi
am Nachmittag des 30.Januar1948 mit
Anhängern zum Beten traf, wurde er
von dem Hindu-Extremisten Nathuram
Godse erschossen.
Mörderwirdglorifiziert
Das imposante, gänzlich weisse Haus,
in dem Gandhi in den Monaten vor sei-
nem Tod lebte, gehörte der Industriel-
lenfamilie Birla. Diese unterstützte
Gandhi und seine Mitstreiter derKon-
gresspartei in deren Unabhängigkeits-
bestrebungen. Bei seinenReisen in die
Hauptstadt war Gandhi öfter dort zu
Gast. Heute sind dieAusstellungen in
dem Gebäude seinemWirken gewid-
met. In mehrerenRäumen gebenFoto-
grafien undTexte Stationen ausGandhis
Lebens wieder. Nur einRaum ist so gut
wie leer. Dort finden sich lediglicheine
Matratze, ein kleiner Holztisch und ein
Spinnrad.Hier verbrachte Gandhi seine
letzten144 Tage.
Extremistische Hindu-Gruppierun-
gen werfen Gandhi seine Nähe zu Mus-
limen bis heute vor und halten ihm vor,
die AbspaltungPakistans akzeptiert zu
haben.Ihre Mitgliedererrichteten in
den vergangenenJahren gar Statuen von
Gandhis Mörder. Im Januar spielte eine
Extremistin die Ermordung nach.Auch
Narendra Mod is BJP hatte ihre Glori-
fizierungsskandale: Eine Hindu-Hard-
linerin derPartei nannte Gandhis Mör-
der vor ein paar Monaten einenPatrio-
ten. DiePolitikerin ist für ihre extre-
mistische Haltung bekannt, ihr wird
vorgeworfen, in einenTerroranschlag
gegen Muslime verwickelt gewesen zu
sein. Die BJP distanzierte sich entschie-
den von derAussage, schloss die Extre-
mistin aber nicht aus derPartei aus.
Heute sitzt sie als deren Abgeordnete
im Parlament.
Für die Einstellung der meisten
Hindu-Nationalisten seien dieseVor-
fälle allerdingsnichtrepräsentativ,meint
der PolitikwissenschafterVinay Sitapati,
der an einem Buch über Hindu-Natio-
nalismus schreibt. Die BJP habekein
Problem mehr mit Gandhi, im Gegen-
teil. «Sie hat ihn sich voll und ganz zu
eigen gemacht. »
Als «Saubermann» genutzt
Die indischeRegierung nutze Gandhis
Nimbus heute für ihre politischen Kam-
pagnen, sagt die Historikerin Mahajan.
Besonders gerne werde dabei dessen
Einsatz für Sauberkeit hervorgekehrt:
Einmal soll Gandhi gesagt haben, ein
sauberes Indien sei wichtigerals die Un-
abhängigkeit.PremierministerNarendra
Modi scheint das gelegen zukommen.
Für seinVorzeigeprojekt «Swachh Bha-
rat» («Sauberes Indien»),das Indien mit
100 Millionen neuenToiletten sauberer
machensoll,wirbtermitGandhisrunder
Nic kelbrille. Diese prangt als Logo von
zahlreichen Strassenmauern imLand.
Auch beim Umweltschutz setzt
IndiensRegierung Gandhi ein. ImVor-
feld desJubiläums liess sie unter dem
Titel «Gandhi SolarPark» am Sitz der
Uno in NewYork 193 Sonnenkollek-
toren einrichten. Und diesen Mittwoch
soll ein Plan verkündet werden, um die
Nutzung von Einwegplastik-Produkten
im Land zu beenden. «DieRegierung
stellt es so dar, als wäre Gandhi eineArt
Umweltinspektor», kritisiert die Histo-
rikerin Mahajan. «Dabei war er zualler-
erst der unangefochteneFührer der Be-
freiungsbewegung.»
Da die Hindu-Nationalisten in
Indiens Unabhängigkeitskampfkeine
Rolle gespielt hätten, seien sie nun
darum bemüht, sich mit den Hel-
den jener Zeit inVerbindung zu brin-
gen, sagtMahajan. «Siebehaupten, die
ideale nationalistischePartei zu sein.
Also müssen sie sich eineVergangenheit
konstruieren, die dasrechtfertigt.» Die
BJP hält nicht nur Gandhi hoch.Auch
dessenWeggefährteVallabhbhaiPatel
wird ausufernd gewürdigt. Im Oktober
2018 weihte Modi in seinem Heimat-
staatGujarat eine gigantischePatel-
Statue ein, mit182 Metern istsie d er-
zeit die höchste Skulptur derWelt.Gan-
dhis undPatels Mitstreiter,Indiensers-
ter PremierministerJawaharlal Nehru,
kommt bei der BJP hingegen schlecht
weg. Dessen Nachfahren stehen seit
Generationen an der Spitze der oppo-
sitionellenKongresspartei.
Wäre Gandhiheutezufrieden?
In einem abgedunkelten Büro unweit
des Mahnmals Gandhi Smriti sitzt Di-
pankar Shri Gyan. Er verwaltet die
Gedenkstätte. Sein Büro gleicht selbst
einemGandhi-Museum.DieWändesind
mit Bildern des Mahatmabepflastert.In
einemRegal stehen zahlreiche Bücher
über Gandhi. Neben dem Schreibtisch
thront eine Büste. Im Rahmen derJubi-
läumsfeier organisiert Shri Gyan ver-
schiedene Veranstaltungen, um den
Indern Gandhis Lehren näherzubrin-
gen. Indien unternehme heute viel, was
im Sinne Gandhis wäre, etwa beim Um-
weltschutz, meint er. «Bapu wäre stolz.»
Doch nichtall e teilen diese Ansicht.
Im Gandhi Smriti halten zwei junge
Männer vor einer Gedenktafel inne.
«Ich wollte schon länger herkommen»,
sagt einer der beiden.Sein Name ist Mo-
hamidTafzeel. Seit zweiJahren lebt er
in Delhi, aber erst jetzt hat er sich Zeit
für einen Besuch genommen. «Gan-
dhi ist derVater unserer Nation», sagt
er, man sollte seine Geschichtekennen,
betont er. Dann verfinstert sichTafzeels
Miene. «Wenn Gandhi Indien heute se-
hen könnte, wäre er sicher nicht glück-
lich.» Die gegenwärtige Regierung
handle dessen Idee eines toleranten,
offenen Indien zuwider, sagt er.
Den ideologischen Überbau von
Modis BJP bildet dieRashtriyaSwayam-
sevak Sangh (RSS),eineradikal hinduis-
tische Kaderorganisat ion.Gandhis Mör-
der, Nathuram Godse, war eine Zeitlang
Mit glied der Bewegung. Nach Gandhis
Tod wurde die Gruppe verboten, aller-
dings nicht lange; ihrkonnte keine Mit-
schuld nachgewiesen werden. Mehrere
Politiker der BJPkommen aus derRSS.
Auch Modi selbst war RSS-Funktio-
när. Im «Imperial», einem der schicks-
ten Hotels in Indiens Hauptstadt, sitzt
Arun Anand, ein Sprecher der Bewe-
gung. «Wir haben absolut nichts gegen
Gandhi», sagt Anand. «Er war ein guter
Hindu und ein guter Nationalist. Er hat
geholfen, unserLand aufzubauen.» Nur
Fassade, oder hat sich die Bewegung tat-
sächlich mit Gandhi versöhnt?
Kennern des Mahatma jedenfalls
stösst die Haltung sauer auf.Für Ra-
machandra Guha, Gandhis womög-
lich berühmtesten Biografen, spiegeln
sie die Scheinheiligkeit der Bewegung.
Am 2. Oktober werde diese besonders
illustriert, schreibt Guha in einem Gast-
beitrag im indischen«Telegraph». Dann
würdenRSS-Zöglinge einem Mann hul-
digen, gegen densie immer nochgrosse
Vorbehalte hätten. Denn Gandhi, so
Guha,«leb te und starb im Glauben,dass
Indienkein hinduistischesLand war,
sondern gleichermassen Leuten aller
Glaubensrichtungen gehörte».
Gandhi trat für
ein friedliches
Zusammenleben aller
Religionsgruppen ein.
Hindu-Nationalisten
war er zu Lebzeiten
ein Dorn im Auge.
Die BJP habe
kein Problem mehr
mit Gandhi, sagt ein
Politikwissenschafter.
Im Gegenteil: «Sie hat
ihn sich voll und ganz
zu eigen gemacht.»
Die Gebrauchsgegenstände des Mahatmas–vom Liederbuchbis zu den Holzschlappen–sind heuteReliquien.CAMERA PRESS / KEYSTONE