Die Welt Kompakt - 06.10.2019

(John Hannent) #1

WELT AM SONNTAG NR. 40 6. OKTOBER 2019 DEUTSCHLAND & DIE WELT 17


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tig“, wie es der Direktor des Northern
Ireland Retail Consortium, Aodhán
Connolly, ausdrückt. „Wir bekämen das
Schlechteste aus beiden Welten, näm-
lich eine doppelte Grenze: eine Zoll-
grenze zu Irland auf der Insel und eine
Regulariengrenze mit Großbritannien
in der Irischen See“, erklärt Connolly.
Fährt man an jene Grenze, vor der
sich alle fürchten, fällt vor allem auf,
wie unsichtbar sie ist. Ab der ehemali-


gen Grenzstation Ravensdale wird der
Asphalt im Norden grobkörniger, die
Randstreifen sind gelb statt weiß. Sonst
ist der Übergang nahtlos. Einige Hun-
dert Meter weiter rauscht dichter Ver-
kehr über die mit EU-Geldern bezahlte
Autobahn zwischen Dublin und Belfast.
Rund 16.000 LKW überqueren täglich
die aufgehobene Grenze. Die Lieferket-
ten zwischen Nord und Süd sind eng
verzahnt, 800 Millionen Liter irische

Milch werden jährlich im Norden ge-
molken, im Süden pasteurisiert und ver-
packt, um dann durch den Norden auf
den Kontinent geliefert zu werden. Die
Sahne für den irischen Tantenlikör Bai-
leys geht fünf Mal über die Grenze.

„EIN SCHWEIN SCHMINKEN“Eine
Zollgrenze, und sei sie noch so moderat,
würde, den irischen Wirtschaftskreis-
lauf de facto ruinieren, glaubt Seamus
Leheny vom britischen Logistikverband
FTA. Zumal die Zölle selbst die irischen
Produkte derart verteuern würden, dass
sie nicht mehr konkurrenzfähig wären.
„Die Milchindustrie wäre sofort erle-
digt, die Fleischindustrie etwas später“,
fürchtet der Vorsitzende des irischen
Bauernverbandes, Joe Healy. Die Be-
teuerungen der Briten, Zollkontrollen
würden künftig in High-Tech-Zollsta-
tionen durchgeführt, die als solche
kaum zu erkennen seien, nennt Bauern-
chef Healy den Versuch, „ein Schwein
mit Lippenstift zu schminken“.
Um zu verstehen, warum die Angst
vor der Grenze hier so groß ist, muss
man sie sich von jemandem zeigen las-
sen, der weiß, wo sie war und was sie be-
deutete. Declan Fearon steuert seinen
VW Caddy über den ehemaligen Über-
gang Ravensdale und zeigt auf die brei-
ten Freiflächen am Straßenrand. „Da
waren früher die Zoll-Abfertigungsanla-
gen“, erzählt der 62-Jährige. Drei bis
vier Stunden habe die Abfertigung ge-
dauert. Dann fährt er kaum einen Kilo-
meter weiter in den Norden, bevor er
anhält. „Allein auf diesem Abschnitt
sind 25 Menschen bei Anschlägen und
Schusswechseln getötet worden“, sagt
er und zeigt auf ein Haus, das einige
Hundert Meter weiter auf der Wiese
steht. „Das Haus meiner Schwester.

Wurde auch angegriffen.“ Fearon ist
Sprecher der Initiative „Border Com-
munities against Brexit“ – und er ist bit-
ter enttäuscht von der britischen Regie-
rung. „Die haben kein einziges Mal mit
uns gesprochen.“ Fearon besitzt in
Newry eine Küchenbaufirma mit 20 An-
gestellten, die im Norden wie im Süden
ausliefert. Er wohnt in Jonesborough,
einem Dorf, wo die Grenze zwischen
der Kirche und dem Friedhof verläuft.
Die Kirche liegt in Nordirland. Der
Friedhof in der Republik Irland.
Fearon zeigt auf die Hügel am Hori-
zont. Dort standen früher die Wachtür-
me der Briten, erzählt er. „Die Grenze
konnten sie dennoch nicht kontrollie-
ren.“ Denn die gesamte Grenze windet
sich auf 500 Kilometern durch das
Land. 270 Straßen queren sie, dazu
kommen unzählige, ziemlich grüne
Übergänge. Den Johnson-Vorschlag hält
Fearon auch deshalb für „bloody non-
sense“, denn der würde eben doch zur
Errichtung einer physischen Grenze
führen. Und damit, ist Fearon über-
zeugt, käme der Schmuggel zurück, die
Kriminalität und der Zorn der Men-
schen auf die Grenze. „Ich weiß, dass
die Leute hier keine physische Grenze
akzeptieren werden. Man soll uns doch
nicht erzählen, dass das nicht zu trou-
bles führen kann.“
Da ist es wieder, dieses Wort, das ein-
fach nur „Probleme“ bedeuten kann.
Aber eben auch Unruhen. Oder
schlimmstenfalls Bürgerkrieg. Aber
Fearon, der mehrfache Großvater, der
während der Troubles, seinen Schwager
verlor, lässt dieses Schreckensszenario
nicht im Raum stehen: „Meine Enkel
motivieren mich, dafür zu kämpfen,
dass so etwas nicht wieder passiert“,
sagt er zum Abschied.

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SASCHA LEHNARTZ

Enttäuscht von der Regierung in London
Declan Fearon von Border Communities Against Brexit
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