Die Welt Kompakt - 06.10.2019

(John Hannent) #1

18 DEUTSCHLAND & DIE WELT WELT AM SONNTAG NR.40 6.OKTOBER


Brad Johnson kann sich an keine einzige
Nacht in seinem Leben erinnern, in der
er länger als sechs Stunden geschlafen
hat. Oft schläft er weniger. Meist gehe
er gegen 12 oder halb eins ins Bett, sagt
er, obwohl er oft nicht mal richtig müde
sei. Gegen vier oder fünf wacht er wie-
der auf. Er fühlt sich so erfrischt wie an-
dere Menschen wohl nur nach dem Aus-
schlafen am Wochenende, „ich wache
auf und bin bereit für den Tag“, sagt er.

VON KATJA RIDDERBUSCH

Johnson ist 63 Jahre alt und kernge-
sund, wenn man von den Knieproble-
men absieht, die ihn inzwischen davon
abhalten, weiter Marathon zu laufen. Er
lebt im Bundesstaat Utah im Westen
der USA, wie viele Menschen dort hat er
eine große Familie. Einen Teil seiner
Verwandten könnte er problemlos um
sechs Uhr morgens versammeln, nach
einer kurzen Nacht, Wecker nicht nötig.
Er selbst hat noch nie einen benutzt.
Vier seiner sieben Geschwister, seine
Tochter, eine Nichte und ein Neffe ha-
ben ähnliche Schlafmuster wie er. Auch
sein Vater schlief wenig. Er wurde 86
Jahre alt und blieb bis zum Ende bei kla-
rem Verstand.
Überhaupt leidet keiner der Kurz-
schläfer der Familie unter den gesund-
heitlichen Folgen, die dauerhafter
Schlafmangel normalerweise mit sich
bringt. Das hat die Familie zu einer Sen-
sation unter Schlafforschern gemacht –
und zu einem begehrten Studienobjekt.
Körper und Geist der Johnsons erholen
sich nachts in Rekordtempo. Die Kurz-
schläfer sind zudem sogar überdurch-
schnittlich fit und aktiv. Die Neurowis-

senschaftlerin Ying-Hui Fu
von der University of Califor-
nia, San Francisco, die seit ei-
niger Zeit an den Johnsons
forscht, nennt Brad und
seine munteren Geschwis-
ter: „Menschen 2.0“.
Seit mehr als zehn Jah-
ren beschäftigt sich Fu,
gemeinsam mit ihrem
Kollegen und Ehemann
Louis Ptáček, einem
Neurologen, mit dem
Zusammenhang zwi-
schen Genetik und Schlaf.
„Schlaf ist eine der funda-
mentalen Notwendigkeiten in
unserem Leben“, sagt die Forsche-
rin. Menschen, die auf Dauer zu we-
nig schlafen, leiden häufiger an Herz-
Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwech-
selstörungen und einem geschwächten
Immunsystem, langfristig steigt ihr Ri-
siko für Krebs und Demenz. Die meis-
ten Erwachsenen benötigen sieben bis
neun Stunden pro Nacht, um diesen Ge-
fahren vorzubeugen. Aber viele bekom-
men nicht genug Schlaf (siehe Kasten).
„Leider wissen wir nur wenig darü-
ber, wie Schlaf wirklich funktioniert,“
sagt Ying-Hui Fu. Die Forschung unter
Alltagsbedingungen sei schwierig, weil
Menschen ihr Schlafverhalten ständig
manipulieren, mit Fernsehlärm, Licht
aus dem Handy, mit Kaffee oder Beruhi-
gungstabletten. Fu hat sich deshalb auf
sogenannte Extremschläfer speziali-
siert. Sie untersucht Menschen, die
schon um acht Uhr abends müde sind
und um vier Uhr morgens putzmunter.
Andere Probanden von Fu sind extreme
Nachteulen. Als besonders ergiebig hat

Brad Johnson und seine Geschwister schlafen


nur vier oder fünf Stunden und sind leistungsfähig


und gesund. Die Wissenschaft ist begeistert


GETTY IMAGES; PRIVAT

Spät ins Bett und


früh wieder raus


B

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