KULTUR
Es herrscht einige Verwirrung bezüglich der Frage, in
welchem Jahr Todd Phillips’ „Joker“ eigentlich spielt.
Manche platzieren ihn inmitten der Siebziger, weil
Joaquin Phoenix’ Titelfigur sich den ausgestreckten
Finger an die Schläfe hält wie Robert De Niros „Taxi
Driver“. Andere pflanzen ihn in die Achtziger, weil De
Niro 1983 in „The King of Comedy“ einen erfolglosen
Komiker gab – was diesmal Phoenix tut, während De
Niro den TV-Talker verkörpert, den damals Jerry Le-
wis spielte. Einige verorten „Joker“ gar in einer nahen
Zukunft, weil die Massenproteste auf den Straßen eine
solche Heftigkeit erreicht haben, dass eine Zeitungs-
schlagzeile „Killt die Reichen! Eine neue Bewegung?“
annonciert.
VON HANNS-GEORG RODEK
Nun ist es in Filmen nützlich, nach Kinos Ausschau
zu halten und nach dem, was sie gerade spielen. Auf
diese Weise stecken uns Filmemacher gern unauffällig
Informationen zu. Wüsste man nicht, dass Tarantinos
„Once upon a Time“ 1969 spielt, wir könnten es aus
dem Titel „The Night They Raided Minskys“ auf einer
Neonanzeige erschließen. Phillips gönnt uns einen
kurzen Blick auf eine Fassade, wo die Filme „Blow out“
und „Zorro: The Gay Blade“ zu erhaschen sind, beide
- Es ist das Jahr des Amtsantritts von Ronald Rea-
gan, der ersten Attacken auf die Sozialbudgets.
Arthur Fleck, seit seiner Kindheit psychisch insta-
bil, sitzt bei seiner Sozialarbeiterin und bittet sie da-
rum, ihm noch mehr Psychopharmaka zu verschreiben
(er nimmt schon sieben verschiedene). Sie kann sei-
nen Wunsch nicht erfüllen, im Gegenteil, sie muss ihm
mitteilen, dass ihre Abteilung aufgelöst wird – wegen
Kürzungen im Sozialetat. „Haben Sie auch das Gefühl,
dass es immer verrückter wird da draußen?“, fragt Ar-
thur sie. Draußen, auf den Straßen von New York, ent-
lädt sich der Protest, türmt sich der Müll, weil die
Müllwerker die Lohnkürzungen nicht hinnehmen wol-
len, die Boulevardzeitungen wollen „Superratten“ ent-
deckt haben, und Moderator De Niro empfiehlt als Ab-
hilfe „Superkatzen!“. Das macht, in den ersten drei
Absätzen, bereits ein halbes Dutzend kulturelle Refe-
renzen. Nun will „Joker“, obwohl sein Held eine der
wichtigsten Comic-Figuren ist, alles andere als eine
Comic-Verfilmung sein und zitiert deshalb nicht un-
ablässig und ermüdend aus dem DC-Universum. Phil-
lips’ Film ist ein Außenseiter, der nichts mit der Super-
heldenmaschinerie zu tun haben möchte. Anstelle der
Batcave steht das Irrenhaus, und statt mit dem Batmo-
bil fährt man U-Bahn.
Charles Bronson in „Ein Mann sieht rot“ erschoss
dort Drogenabschaum, Joaquin Phoenix knallt drei
übergriffige Wall-Street-Jungarschlöcher ab. Beide Fil-
me suggerieren: Die haben es verdient.
Jack Nicholson hat seinen „Joker“-Wahnsinn noch
mit einem frühen Sturz in den Säuretank erklärt, ei-
nem individuellen Unglücksfall. Der Ursprung von
Joaquin Phoenix’ wachsendem Irrsinn liegt in einer
Gesellschaft, in der Ausbreitung einer mitleidlosen
Ideologie. Phillips’ Film deutet den Batman-Mythos
gründlich um. In der Mitte seines Films begibt sich
Phoenix zu dem Haus des Großindustriellen Thomas
Wayne (und trifft dort dessen kleinen Sohn, aus dem
Batman werden wird), der bisher stets als Wohltäter
gezeichnet wurde. Hier ist er skrupel- und empathie-
los (und vielleicht Jokers unehelicher Vater, aber der
Film verfolgt das nicht, es ist ihm nicht wichtig), und
verhöhnt die Straßenprotestler als „Clowns“.
Der größten Umwertung wird der Joker selbst un-
terzogen. Schon Christopher Nolans „Dark Knight“
hatte ihn uminterpretiert, vom Kind mit der Freude an
der reinen Anarchie zum speziellen Feind der Ein-Pro-
zent-Kapitalisten. Joaquin Phoenix ist zuvorderst ein
Opfer, das bei jeder Gelegenheit etwas auf die Fresse
kriegt, von den Reichen, von den Verarmten und von
der Mittelklasse, die jemanden unter sich braucht, auf
den auch sie eintreten kann.
DAS LACHEN DER VERZWEIFLUNGPhoenix’ Ar-
thur Fleck leidet unter einer Art Kicher-Tourette: Er
fängt in den unpassendsten Situationen an, laut zu la-
chen, er kann nichts dafür, er kann nur eine Visiten-
karte verteilen, die sein Benehmen erklärt. Er ver-
sucht, dieses Gelächter im Halse zu ersticken, er ver-
zerrt sein Gesicht zur Grimasse, er verkehrt die Be-
freiung durch Lachen in ihr Gegenteil. Sein spindel-
dürrer Körper – kein männlicher Star hat sich jemals
derart heruntergehungert, außer vielleicht Christian
Bale, auch als „Batman“ bekannt, in „Der Maschinist“
- bricht wiederholt in einen wirren Ausdruckstanz
aus; es ist der sprichwörtlich nackte Wahnsinn.
In Venedig, wo „Joker“ den Goldenen Löwen ge-
wann, schwärmte der Festivaldirektor davon, Phoenix
habe mit dieser Rolle den „Zustand der Gnade“ er-
reicht. Phoenix’ Identifikation ist total, es passt kein
Blatt Seidenpapier zwischen den Darsteller und die
Hoffnungen, Erniedrigungen und den Zorn der Figur,
die er verkörpert. Er ist wie ein dunkler Messias, und
falls es eine Fortsetzung geben sollte (was die heilige
Klara, Schutzpatronin des Kinos, verhindern möge),
müsste er sich an die Spitze des Mobs mit den Clowns-
masken stellen, der beginnt, die Stadt anzuzünden.
DIE UNRETTBARKEIT DER WELTMan kann den
phoenixschen Joker nicht mehr als sadistischen Hor-
rorclown wegerklären, wie in den Comics und allen
Filmen vor Heath Ledger. Möglicherweise sind seine
Symptome die einer kranken Gesellschaft, die zum
Ausbruch gelangen, wenn man sie nicht mehr mit so-
zialer Linderung unter die Oberfläche therapiert. Sein
fiebriges Lachen beschreibt den Irrsinn der Welt, sein
ungehemmtes Schluchzen betrauert ihre Unrettbar-
keit. Wir beobachten, wie Arthur Fleck sich Schritt für
Schritt in einen mörderischen Wahnsinnigen verwan-
delt, den Titel „Joker“ nimmt er erst am Schluss in An-
spruch. Und doch ermutigt uns Regisseur Todd Phil-
lips, so etwas wie Sympathie für ihn zu empfinden,
denn die Verwandlung von Unschuld in etwas Übles
lips, so etwas wie Sympathie für ihn zu empfinden,
denn die Verwandlung von Unschuld in etwas Übles
lips, so etwas wie Sympathie für ihn zu empfinden,
wird von einem magischen, tragischen Leuchten be-
gleitet. Das Böse wohnt ihm nicht inne, das Böse
dringt in ihn ein, und es kriecht aus der Gesellschaft.
Hollywood-Mainstream-Filme (und dies ist einer,
wenn auch ein extrem düsterer) hüten sich davor, ein-
deutig politisch zu sein. Man könnte die Figur des Jo-
ker als als einen populistischen Volkshelden interpre-
tieren , der die Lösung für alle Probleme bereithält:
Terror! Kill the Rich! Man könnte in ihm einen jener
Männer sehen, die aus tiefer Isolierung, gestautem
Minderheitenhass und beschädigter Maskulinität he-
raus Schulen mit ihrer Maschinenpistole heimsuchen.
Oder man betrachtet „Joker“ als anspruchsvollen
Snuff-Film, in dem wir zusehen, wie das soziale Ge-
flecht ausgelöscht wird – von den Clownsmasken und
den Thomas Waynes in unheiliger Gemeinsamkeit.
So steht es auf dem Werbeplakat, das Arthur Fleck
zu Beginn umherträgt: „Everything must go.“ Alles
muss weg.
Die tiefe Traurigkeit
des Bösen
Joaquin Phoenix spielt den Erzbösewicht „Joker“. Anders als in den Comics ist
der Schurke bei ihm zunächst ein tief verzweifelter Mensch – bis er zum
mörderischen Wahnsinnigen wird, weil die Welt ja eh nicht mehr zu retten ist
KINO