48 STIL WELT AM SONNTAG NR.40 6.OKTOBER2019
or ziemlich genau drei Jah-
ren machte Ashton Apple-
wwwhite mit einem Vortrag vorhite mit einem Vortrag vor
den Vereinten Nationen auf
ein bedeutendes Thema auf-
merksam: Die Benachteiligung von Men-
schen aufgrund ihres Alters. Dieses ist
schon seit mehr als einem Jahrzehnt die
Mission der US-Amerikanerin, sie wen-
det sich immer und überall gegen die Al-
tersdiskriminierung. Gerade haben wir
sie beim Zukunftskongresses me-Con-
vention in Frankfurt am Main getroffen.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal
Reden vor Publikum halten würde“, sagt
sie. Eigentlich sei sie ein introvertierter
Typ. Beim Gespräch ist davon nicht viel
zu merken.
VON HEIKO ZWIRNER
WELT AM SONNTAG: Frau Apple-
white, ich bin 47 Jahre alt, meine Haa-
re lichten sich und ich könnte ein
Hörgerät brauchen. Kürzlich musste
ich die Schriftgröße auf meinem Han-
dy erhöhen, damit ich noch was lesen
kann. Was können Sie mir über die
Vorteile des Älterwerdens erzählen?
ASHTON APPLEWHITE:Nun, beim Äl-
terwerden gibt es zwei Dinge, an denen
leider keiner vorbeikommt. Sie werden
Menschen verlieren, die Ihnen viel be-
deuten. Und Ihr Körper wird allmählich
verfallen. Das ist schlimm, keine Frage.
Bei mir wurde vor Kurzem ein Akusti-
kusneurinom diagnostiziert, das ist ein
gutartiger Hirntumor, der das Gehör
beeinträchtigt. Ich werde also auch bald
ein Hörgerät tragen müssen. Die gute
Nachricht ist, dass Sie sich mit Mitte 40
am Tiefpunkt einer U-förmigen Kurve
befinden, was Ihr Glücksempfinden be-
trifft. Die Wahrscheinlichkeit steht
nicht schlecht, dass Sie mit zunehmen-
den Alter immer glücklicher werden.
Das Gehirn scheint so zu funktionieren.
Ich habe es zunächst selbst nicht ge-
glaubt, aber es hat sich immer wieder
bestätigt, unabhängig von Vermögens-
verhältnissen, Familienstand oder eth-
nischer Zugehörigkeit.
Ganz so dramatisch ist es nicht. Bis-
lang hatte ich nicht das Gefühl, am
Tiefpunkt angekommen zu sein.
Das wäre vielleicht anders, wenn Sie ei-
nen unberechenbaren Chef, pflegebe-
dürftige Eltern und verwöhnte Teen-
ager-Kinder hätten – oder wenn Sie kei-
nen passenden Job mehr finden wür-
den, weil man Sie schon für zu alt hält.
So sieht nämlich die Realität für viele
Menschen in Ihrem Alter aus.
Sie haben ein Manifest gegen Alters-
diskriminierung geschrieben. Was hat
Sie dazu bewogen?
Ich habe mit Mitte 50 begonnen, mich
mit diesem Thema zu beschäftigen. Es
fing an mit einer Recherche über Men-
schen, die über 80 und berufstätig sind
- vor dem Hintergrund, dass ich selbst
eine diffuse Angst vor dem Älterwerden
hatte. Als Frau spürt man ganz beson-
ders, wie das soziale Kapital ab einem
bestimmten Alter schwindet. Dabei ist
es zwar nicht so, dass unsere Ängste un-
berechtigt sind, aber sie stehen in kei-
nem Verhältnis zu dem, was tatsächlich
auf uns zukommt. In den meisten Fällen
können wir weiterhin die Dinge tun, die
uns wirklich wichtig sind, wenn auch
manchmal in abgewandelter Form.
Sie meinen mit Einschränkungen.
Die Dinge ändern sich nun mal. Wenn
wir erwarten, mit 60 ein ähnliches Sex-
leben zu haben wie mit 20, dann werden
wir enttäuscht sein. Das Gleiche gilt
auch für Ihren Haaransatz. Wir sollten
uns aber von der Vorstellung verab-
schieden, dass Älterwerden ausschließ-
lich mit Erfahrungen von Verlust ver-
bunden ist. Es hat auch Vorzüge. Sex ist
ein gutes Beispiel: Für viele Menschen,
vor für allem Frauen, wird der Sex mit
zunehmendem Alter besser.
Aber ist es nicht so, dass die Verlust-
erfahrungen überwiegen?
Natürlich erlebt man reale Verluste,
und es ist völlig okay, darüber zu trau-
ern. Aber wenn das Älterwerden wirk-
und es ist völlig okay, darüber zu trau-
ern. Aber wenn das Älterwerden wirk-
und es ist völlig okay, darüber zu trau-
lich so schlimm ist, wie kommt es dann,
dass niemand jünger sein will? Ich wür-
de gerne wieder so gut hören wie früher,
aber ich kenne keinen, der tatsächlich
noch mal 20 sein möchte. Im Grunde
wissen wir nämlich genau, dass unsere
Lebensjahre eine Bereicherung darstel-
len. Sie haben uns zu dem Menschen ge-
macht, der wir sind. Wir haben mehr Er-
fahrung, sind ausgeglichener, können
unsere Erlebnisse besser einordnen und
wissen viele Dinge besser zu schätzen.
Warum ist unsere Kultur so besessen
von der Idee der Jugendlichkeit?
Weil sich mit Zufriedenheit und Selbst-
akzeptanz kein Geld verdienen lässt.
Wenn natürliche Entwicklungen wie
Falten oder Veränderungen im Hor-
monhaushalt pathologisiert werden,
können Pharmaunternehmen und
Schönheitskliniken davon profitieren.
Wenn wir uns einreden lassen, dass die
Spuren, die das Leben auf unserem Ge-
sicht hinterlassen hat, hässlich sind,
dann sind wir viel eher bereit, überteu-
erte Hautcremes zu kaufen. Dahinter
steckt eine riesige Industrie, die aus un-
serer Angst Kapital schlägt.
VVViele Menschen fühlen sich besser,iele Menschen fühlen sich besser,
wenn sie die Angebote dieser Indus-
V Jung und schlank gleich schön – das
war einmal. In den vergangenen
Jahren hat sich die Modebranche
von ihrer Fixierung auf jugendliche
Looks gelöst und setzt verstärkt
auf reifere Models. Bereits 2015
warb Celine mit der berühmten
Essayistin Joan Didion,die sich mit
grauem Bob und überdimensionaler
Sonnenbrille ablichten ließ. Im glei-
chen Jahr ließ sich die Folk-Legende
Joni Mitchellvon Hedi Slimane für
Saint Laurent fotografieren. Die
Sängerin Bette Midler modelte für
Marc Jacobs, die Schauspielerin
Faye Dunawayfür Gucci und die
Modeschöpferin Vivienne West-
wood für ihre eigene Kollektion.
Die italienische Nobelmarke ver-
pflichtete zuletzt auch die Punk-
Ikone Iggy Pop,der auch mit 72
Jahren am Liebsten mit freiem
Oberkörper herumläuft. Die Mode-
firmen bekennen sich damit zu mehr
Diversität, gleichzeitig laden sie ihre
Kollektionen mit der über Jahr-
zehnte gewachsenen Aura der Stars
auf. Einen ganz besonderen Auftritt
hatte zuletzt Helen Mirren,als sie
beim Defilée von L’Oréal in Paris
barfuß über die Laufsteg hüpfte.
„Es ist besser, würdelos zu altern“,
gab die Oscarpreisträgerin zu Pro-
tokoll. HZ
Ganz hipp und völlig frei von Jugendwahn
Voll anti
gegen
Anti-Aging
Älter werden ist nichts für Feiglinge, das
kennen wir doch, oder? Ashton Applewhite
setzt einen drauf: Nur Mut zu Falten,
zu besserem Sex – und am besten,
Sie hören ganz damit auf, übers
Alter nachzudenken