WE LT A M S O N N TAG N R. 4 0 6. O K TO B E R 2 019 SPORT^61
zu sich zu nehmen. Das ist elementar.“
Detailliertere Erkenntnisse von Doha
werden aber erst die Auswertungen da-
heim bringen.
Wertvolle Informationen erhofft sich
Gonschinska auch vom zweitägigen Hit-
zekongress vor Ort. Die Deutschen hät-
ten dabei mit ihren neu entwickelten
Wüstenmützen, die auf dem Kopf und
im Nacken mit Eis bestückt werden
können, großes Aufsehen unter der in-
ternationalen Ärzteschaft erregt, er-
zählte Teamarzt Paul Lange WELT AM
SONNTAG. Innovationen dieser Art
wünscht sich Gonschinska mehr. Zu-
gleich betonte er aber, „dass es grenz-
wertig gewesen ist, was ich beim Gehen
und Marathon gesehen habe“.
Der 50-Jährige sah aber auch einige
verheißungsvolle Leistungen der deut-
schen Athleten. Allen voran Niklas Kaul,
21, der nach den dritten Plätzen von Ge-
sa Felicitas Krause über 3000 Meter
Hindernis und Schwanitz die dritte Me-
daille für Deutschland geholt hat. Der
neue Weltmeister im Zehnkampf dürfte
als künftiges Gesicht des Verbandes ein
Segen sein. Unaufgeregt, sympathisch,
freundlich, sich nicht wichtig nehmend
- der jüngste „König der Athleten“ in
der WM-Geschichte besitzt das Format,
vielleicht irgendwann Darling der Nati-
on zu werden. Kaul scheint die mentale
Stärke zu besitzen, diesen Erfolg für
sich so verarbeiten zu können, dass er
nicht zur Last wird.
Auch Konstanze Klosterhalfen, 22,
verspricht eine glorreiche Zukunft.
Wäre da nicht dieses Misstrauen, seit
sie sich vor elf Monaten dem umstrit-
tenen Nike-Oregon-Projekt in Port-
land angeschlossen hat. Der Grün-
dungsvater und Chef der angeblich in-
novativsten Trainingsgruppe der Welt,
Alberto Salazar, wurde am Wochenan-
fang für vier Jahre wegen Verstößen ge-
gen die Anti-Doping-Regeln gesperrt.
Klosterhalfen wird von Pete Julian trai-
niert, Salazars Assistent. Am Samstag-
abend (nach Redaktionsschluss) wollte
sie über 5000 Meter ihre erste Medaille
erlaufen.
Am Schlusstag wollen noch die Jah-
resweltbeste im Weitsprung, Malaika
Mihambo, und das Speerwurf-Quartett
mit Titelverteidiger Johannes Vetter
und Olympiasieger Thomas Röhler den
ganz großen Coup landen, sodass mehr
Medaillen herausspringen könnten als
vor zwei Jahren in London (1/2/2). Der
Trip in den Golfstaat hätte sich dann
auch sportlich gelohnt.
KATARER MÖGEN FALKENJAGD
Gleiches werden die Katarer sagen,
nachdem ihr Nationalheld, Hochsprin-
ger Mutaz Essa Barshim, triumphiert
hat. Allerdings waren bei der Sieger-
ehrung etwas später die Ränge komplett
leer, sodass sie erst mal abgesagt wurde.
Das Emirat richtete zwar schon Groß-
events aus wie die Weltmeisterschaften
im Handball, Schwimmen, Radsport
oder Turnen. Doch Ansehen genießen
diese Sportarten genauso wenig wie die
Leichtathletik. Die Tradition liegt bei
Falkenjagd, Kamel- und Pferderennen.
Das wird sich auch in den nächsten
drei Jahren nicht ändern, wenn dann
im Spätherbst 2022 der Fußball auf
der arabischen Halbinsel sein großes
Weltturnier veranstaltet. „Expect
Amazing“ – Erwarte Erstaunliches –
lautet der Slogan der Endrunde. Man
darf gespannt sein, wie er mit Leben
erfüllt wird.
Flott unterwegs
Konstanze Klosterhalfen
beim 1500-Meter-Lauf
in Doha
GETTY IMAGES FOR IAAF
/ALEXANDER HASSENSTEIN
Hause
anchmal ist der nächste Rück-
schlag einfach einer zu viel.
Immer wieder aufstehen, im-
mer wieder fallen, das zermürbt – oder
es spornt an. So ist das bei Elisabeth
Seitz, 25, Deutschlands Vorzeigeturne-
rin und Rekordmeisterin: „Ich dachte
nie konkret ans Aufhören, aber gerade
bei gesundheitlichen Rückschlägen ha-
be ich mir auch mal die Frage gestellt,
ob ich noch einmal angreifen soll oder
ob es sich nicht mehr lohnt. Ich bin
aber immer schnell zu dem Entschluss
gekommen, dass ich erst wieder gesund
werde und dann allen zeigen werde,
dass ich noch da bin.“
VON MELANIE HAACK
Ohne ihre Willensstärke, ohne die-
se Energie und ihren Optimismus, der
sie seit Jahren auszeichnet, hätte die
Lehramtsstudentin einiges verpasst.
WM-Bronze 2018 zum Beispiel. Und
die Heim-Welt-
meisterschaften
derzeit in der
Stuttgarter
Hanns-Martin-
Schleyer-Halle,
sieben Autominu-
ten von ihrer
Wohnung: „Schon
allein die Tatsa-
che, überhaupt bei
einer Heim-WM
antreten zu dür-
fen, ist großartig.
Der Traum eines
jeden Sportlers.“
In der Qualifi-
kation turnte die
25-Jährige mit Bra-
vour durch ihre
Programme, be-
kräftigte damit ih-
re Ambitionen auf einen Finalplatz im
Mehrkampf sowie am Stufenbarren,
ihrem Paradegerät. Das deutsche
Quintett beendete den Qualifikations-
tag auf Rang vier und liegt damit auf
Olympiakurs: Die besten zwölf Mann-
schaften von Stuttgart qualifizieren
sich für Tokio 2020 (Entscheidung nach
Redaktionsschluss).
Seitz’ Karriere begann mit zwei
Paukenschlägen 2011: EM-Silber im
Mehrkampf mit gerade mal 18 Jahren.
Zudem wurde ein Element am Stufen-
barren nach ihr benannt. Doch die
große Hoffnungsträgerin musste im-
mer wieder einstecken, auch wenn sie
oft bewies, wie hart sie im Nehmen ist.
Seitz turnte mit kaputtem Finger und
Schrauben im Bein, musste aber auch
längere Pausen einlegen, etwa nach ei-
ner Operation am linken Fuß.
Nicht minder schwierig: Sie musste
mit Zweiflern umgehen. Vor allem
nach den Olympischen Spielen 2012
gab es einige Menschen, die nicht
mehr an sie glaubten, ihr ein Karrie-
reende nahelegten. „Die Kritiker und
Zweifler, das muss ich zugeben, haben
mich eine Zeit lang etwas ausge-
bremst. Es hat mich einfach ent-
täuscht und traurig gemacht, weil ich
so viel für den Sport gegeben und
selbst immer an mich geglaubt hatte“,
erzählt sie. Aufgeben aber kam nicht
infrage: „Ich hatte immer noch Ziele
und kenne mich selbst schließlich am
besten. Ich war mir sicher, dass es
noch nicht vorbei ist, dass noch so viel
in mir steckt.“
MOTIVATION HEIM-WM Zuspruch
erhielt sie von Familie und Freunden,
die sie darin unterstützten, einen neu-
en Weg einzuschlagen: weg aus der
Heimat Mannheim, Umzug nach
Stuttgart. Es war der richtige Schritt.
„Hier wurde ich sofort sehr gut auf-
genommen und bin noch einmal auf-
geblüht“, sagt Seitz. Dann verpasste
sie 2016 in Rio als unglückliche Vierte
knapp Olympia-
bronze, das über-
raschend ihre
Teamgefährtin So-
phie Scheder hol-
te. 2018 aber be-
lohnte sie sich
endlich: Seitz ju-
belte in Doha über
WM-Bronze am
Stufenbarren – bei
ihren achten Welt-
meisterschaften.
„Ich bekomme
immer noch Gän-
sehaut, wenn ich
daran denke“, sagt
sie heute. „In Do-
ha habe ich ein-
fach nur pure
Freude gespürt.
Als ich in Stuttgart
empfangen wurde und mich nur be-
danken wollte, dass ich hier so toll auf-
genommen wurde und mir dadurch
meinen Lebenstraum erfüllen konnte,
kamen mir die Tränen. Ich konnte
nichts mehr sagen.“ Es waren Tränen
der Freude und der Erleichterung. In
dem Moment, sagt sie, sei ihr erstmals
richtig bewusst geworden, welch gro-
ßer Stein ihr vom Herzen gefallen sei.
Und dennoch liegt oder hängt das
Edelmetall zu Hause nicht an promi-
nenter Stelle – zum Beispiel als Moti-
vation für ihre Auftritte bei der Heim-
WM. „Ich trainiere täglich, gebe im-
mer alles, um im Sport gut zu sein.
Und dazu gehört auch, abschalten zu
können.“ Deshalb will Seitz die Me-
daille zu Hause nicht ständig vor Au-
gen haben. Loslassen steht dort im
Vordergrund. Und schließlich weiß sie
eines ganz genau: „Immer wenn ich im
Sport einen Traum verfolgt habe, hat-
te ich so viel Kraft und Willensstärke,
dass ich es letztendlich geschafft habe.
Dieses Wissen hilft im Leben.“
Immer fffestestzupacken
Trotz zahlreicher Verletzungen hat die Turnerin
Elisabeth Seitz nie ans Aufgeben gedacht
WWWM-BronzeM-BronzeElisabeth Seitz 2018
in Doha am Stufenbarren
PICTURE ALLIANCE/NURPHOTO
/ULRIK PEDERSEN
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