Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1
Indonesien

Knast für Sex


 Drakonische Vorschriften aus der
Scharia könnten in Indonesien bald fest
im Strafrecht verankert sein. Ein neuer
Entwurf des Gesetzpaketes besagt, dass
das islamische Recht in Teilen als offiziel-
les Strafgesetz anerkannt werden soll.
In Indonesien leben rund 227 Millionen
Muslime, es ist weltweit das Land mit
den meisten muslimischen Bewohnern.
Die Scharia wird an einigen Orten Indo-
nesiens praktiziert, etwa in der Provinz
Aceh. Der Entwurf sieht unter anderem
Gefängnis vor für vorehelichen und
gleichgeschlechtlichen Sex, Abtreibungen
oder für die Aufklärung über Verhütungs-
mittel. Statt bisher bei 10 soll es nun bei
37 Anklagepunkten möglich sein, die
Todesstrafe auszusprechen. Dieser »Ent-
wurf ist nicht nur ein Desaster für Frauen,
religiöse und Genderminderheiten, son-
dern für alle Indonesier«, sagt Andreas
Harsono von Human Rights Watch. Das
bisherige Strafgesetz stamme aus der nie-
derländischen Kolonialzeit und müsse tat-
sächlich überholt werden, jedoch nicht so:
Einige der neuen Artikel verstießen gegen
internationales Recht. Der von einer par-
lamentarischen Arbeitsgruppe erarbeitete

Vorschlag stellt Staatspräsident Joko
Widodo vor ein Dilemma: Eigentlich gilt
er als liberal, ist aber auf Unterstützung
konservativer Kreise angewiesen. Nach
Protesten von Menschenrechtsorganisa-
tionen und einer Petition hat Widodo die
für diese Woche geplante Verabschiedung
des Entwurfs erst mal verschoben.
Indonesien galt lange als Vorbild für
einen toleranten Islam. In den vergange-
nen Jahren haben konservative Kräfte
aber immer größeren Einfluss gewonnen.
So trat Widodo bei der Wahl im April
gemeinsam mit einem islamischen Kleri-
ker als Vizepräsidentschaftskandidat an.
Vielen Wählern war er während seiner
ersten Amtsperiode offenbar nicht radi-
kal genug. ANS

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Türkei

Flüchtlingszahlen


hochgerechnet


 Wenn Recep Tayyip Erdoğan prahlen
will, nennt er eine Zahl: 3,6 Millionen.
So viele syrische Flüchtlinge, behauptet
der türkische Präsident, habe sein Land
seit Kriegsbeginn 2011 aufgenommen.
Erdoğan macht mit dieser Zahl im In-
und Ausland Politik. Auch die EU, die
mit der Türkei 2016 ein Flüchtlings -
abkommen schloss, stützt sich auf diese
Angabe. Nun stellt sich heraus, dass

die Zahl an Flüchtlingen, die die Türkei
tatsächlich beherbergt, deutlich niedriger
sein könnte. Franck Düvell, Experte am
Deutschen Zentrum für Integrations- und
Migrationsforschung in Berlin, hat in
einer bislang unveröffentlichten Studie,
die dem SPIEGELvorliegt, Statistiken
ausgewertet, unter anderem des Uno-
Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) und der
türkischen Migrationsbehörde (DGMM).
Er kommt zu dem Ergebnis, dass wohl
eher 2,7 bis 3 Millionen Flüchtlinge in der
Türkei leben.
Zwar hat die DGMM noch im August
die Zahl der syrischen Flüchtlinge in der
Türkei auf 3,6 Millionen
beziffert. Die Behörde
habe jedoch versäumt, jene
Syrer, die sich nicht mehr
im Land aufhalten, etwa
weil sie nach Syrien zurück-
gekehrt oder nach Europa
weitergezogen seien, aus
der Rechnung zu nehmen,
schreibt Düvell. Zum Teil
seien Binnen migranten
auch doppelt gezählt wor-
den. »Es scheint, als wären
die von türkischen Quellen
oder internationalen Orga-
nisationen verbreiteten
Zahlen grob irreführend«,
BURAK KARA / GETTY IMAGESbilanziert Düvell.POP
Erdoǧan-Plakat in Flüchtlingscamp

HOTLI SIMANJUNTAK / EPA-EFE / REX
Öffentliche Bestrafung in Aceh

Polen

»Die bösen Jungs tun


das Richtige«


Der Weltbank-Ökonom Marcin
Piątkowski über das polnische Wirt-
schaftswunder und die sozialen
Versprechen der nationalkonservativen
PiS-Regierung

SPIEGEL: Herr Piątkowski, die Arbeits-
losenquote ist mit rund drei Prozent
so niedrig wie nie seit der Wende, das
Wirtschaftswachstum liegt mit 4,5 Pro-
zent gleichzeitig auf Rekordhoch. Wie
kann man das polnische Wirtschafts-
wunder erklären?
Piątkowski: Polen ist wie ein Alkoho -
liker, der plötzlich aufgestanden ist und
dann gleich einen Marathon gewonnen
hat. Jahrhundertelang war das Land
beherrscht von Eliten, die den Fort-
schritt hemmten. Das endete 1989. Dann
kamen radikale Reformen, die Priva -
tisierung in den Neunzigerjahren. Und
der dritte Faktor ist die Aufnahme in
die EU. Sie bewirkte, dass Institutionen
und Rechtsstaat sehr schnell aufgebaut
wurden – Polen hat in 10 Jahren
einen Rückstand wettgemacht, Fort-
schritte, für die der Westen 500 Jahre
gebraucht hat.
SPIEGEL:PiS sagt aber, der Prozess sei
ungerecht verlaufen. Stimmt das?
Piątkowski: Polen hat sein Pro-Kopf-
Einkommen in den vergangenen 30 Jah-
ren fast verdreifacht. Auch die Ärmsten
wurden reicher, aber lange nicht so wie
der Rest. PiS-Chef Jarosław Kaczyński
hat das als politische Herausforderung
angenommen – im Gegensatz zu den
Eliten in vielen anderen Ländern.
SPIEGEL: Die Partei steuert bei der
Wahl im Oktober auf einen Sieg hin.
Sie macht vor allem soziale Verspre-
chen: Kindergeld, höhere Mindestlöh-
ne. Kann Polen sich das leisten?
Piątkowski: Es ist gut, die Früchte des
Booms an die Bedürftigeren zu vertei-
len. Ich muss zugeben: Die bösen Jungs
tun das Richtige. Schade, dass diese
Politik von einer Regierung geführt
wird, die den Rechtsstaat aushöhlt.
SPIEGEL: Hält die Wirtschaft das aus?
Piątkowski: In den vergangenen
vier Jahren unter PiS hat Polen weiter
hohes Wachstum gehabt – obwohl die
Wirtschaft im Rest Europas nicht gerade
einen Boom erlebt hat. Polens Ver -
schuldung ist heute geringer als vor vier
Jahren. Aber auf Dauer reicht es nicht,
nur Geld zu überweisen. Polen braucht
Investitionen in Ausbildung und For-
schung. Lehrer verdienen schlecht, und
eine Universität wie Harvard haben wir
auch noch nicht wirklich. JPU
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