Der Spiegel - 28.09.2019

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ments eingelegt. Am Dienstag nun gaben
die elf Richter des Supreme Court ihnen
einstimmig recht: Die fünfwöchige Pro -
rogation habe »extreme« Auswirkungen
auf die Fundamente der britischen Demo-
kratie, die Regierung habe dafür aber
keine Begründung vorgelegt. Die Zwangs-
pause sei daher »gesetzeswidrig und
nichtig«.
Härter und eindeutiger hätte das Urteil
nicht ausfallen können. Aber mit Demut
oder gar Schuldeingeständnissen hielten
sich Johnsons Vasallen gar nicht erst auf.
Stattdessen weiteten sie ihre Strategie
aus, jeden zu verdammen, der sich der rei-
nen Brexit-Lehre in den Weg stellt. Von
einem »verfassungsrechtlichen Putsch«
soll Kabinettsmitglied Jacob Rees-Mogg
in einer internen Besprechung schwadro-
niert haben, andere Tories drohten, den
Supreme Court abzuschaffen. Die höchs-
ten Richter im Land sind nun in den Augen
der Brextremisten, was die Opposition,
gemäßigte Tories, die Bank of England,
Wirtschaftsverbände und Millionen briti-
sche EU-Freunde schon lange sind: Feinde
des Volkes.
In der destruktiven Logik des Downing-
Street-Chefstrategen Dominic Cummings
könnte das Urteil seinem Chef Johnson
sogar nutzen. Laut britischen Medien soll
Cummings erst jüngst intern geprahlt ha-
ben, wie wenig die britischen EU-Freunde
sein Spiel begriffen: Jeder Schlag gegen
Johnson stärke in Wahrheit dessen Posi -
tion beim Wahlvolk – die Gegenseite
verstehe nicht, wie sehr das Land dieses
Parlament hasse.
Damit dieses zynische Spiel aufgeht,
braucht Johnson schleunigst Wahlen. Aber
genau die verweigert ihm das seit Mitt-
woch wieder tagende Parlament weiter.
Erst wenn gesichert sei, dass Johnson das


Land nicht mit einem vertragslosen
Crashkurs aus der EU steuere, werde er
ein Misstrauensvotum stellen, ließ Labour-
Chef Jeremy Corbyn wissen.
Johnson ist damit fürs Erste eingemau-
ert. Im Wesentlichen bleiben ihm zwei Op-
tionen: Er könnte noch einen Vertrag mit
der EU aushandeln, der angesichts der ver-
bleibenden Zeit dem so verhassten Schei-
dungsabkommen seiner Vorgängerin wohl
sehr ähnlich sähe. Oder er muss all seine
Schwüre zurücknehmen und doch eine
Verlängerung der Frist über den 31. Okto-
ber hinaus beantragen. In beiden Fällen
stünde die Brexit-Partei bereit, über John-
son und die Tories herzufallen. Die »Ver-
räter« wären dann sie. »Johnson ist sehr
verletzlich«, sagt der Politologe und EU-
Experte Anand Menon vom King’s Col-
lege London. »Es ist fraglich, ob sein
Versuch, einen Pakt mit dem Volk zu
schließen, aufgehen wird.«
Dass Johnson den einmal eingeschlage-
nen Weg jedoch unbedingt weitergehen
will, machte er am Mittwoch überdeutlich.
Wie ein Schulhofrüpel schleuderte er seine
Beleidigungen in Richtung Labour, als
könnte er damit ein Ad-hoc-Misstrauens-
votum provozieren. Fast manisch wieder-
holte er seine Worte von der »Kapitula -
tion«, vom »Verrat« und von der »Feigheit«
seiner Gegner, sich Wahlen zu stellen.
Emotional vorgebrachte Bitten von Ab-
geordneten, verbal abzurüsten, begegnete
Johnson mit Hohn. Wiederholt erinnerten
Parlamentarier aller Parteien Johnson an
das Schicksal der Labour-Politikerin Jo
Cox, die 2016, eine Woche vor dem Bre-
xit-Referendum, von einem Rechtsextre-
misten erstochen worden war. Im Verhör
hatte der Täter gesagt: »Mein Name ist
›Tod den Verrätern, Freiheit für Großbri-
tannien‹.«

»Bitte mäßigen Sie Ihre Sprache«, rief
die Labour-Abgeordnete Paula Sherriff am
Mittwoch Johnson zu. Sie und andere
würden permanent von Brexit-Anhängern
attackiert, »und die Menschen nutzen da-
bei Ihre Worte«. Johnsons Antwort: »Ich
habe selten größeren Humbug gehört.«
Dabei ist unstrittig, dass britische Par-
lamentarier in Brexit-Britannien immer
häufiger beleidigt, bedroht und attackiert
werden. Schon Mitte des Jahres schlug die
Metropolitan Police Alarm, nachdem sie
in den ersten fünf Monaten des Jahres
mehr als 750 derartige Übergriffe regis-
triert hatte. Diese Zahlen seien »beispiel-
los«. In vielen Abgeordnetenwohnungen
wurden inzwischen Panikknöpfe instal-
liert. Das Präsidium des Unterhauses hat
Abgeordneten geraten, das Parlament ins-
besondere spätabends möglichst nicht al-
lein zu verlassen.
Am Morgen nach Johnsons Tiraden ver-
öffentlichte eine weitere Abgeordnete, die
Labour-Frau Jess Phillips, den Wortlaut
einer Drohung, die sie vor Kurzem erhal-
ten hat. Der Absender schreibt darin, John-
sons Formulierung »tot im Graben« sei
beinahe prophetisch gewesen: »Das wird
jenen passieren, die sich weigern, den Bre-
xit umzusetzen.«
Einer von Phillips initiierten Debatte
über aufwieglerische Sprache blieb Boris
Johnson am Donnerstag natürlich fern.
Seine Parteifreunde informierte er, dass er
nichts zurückzunehmen habe. Wieso auch,
fragt sich Phillips, die von einer »durch-
dachten Strategie« ausgeht, »in unserem
Land Hass zu säen«. Außerdem ließ sie
wissen: »Ich habe keine Angst vor Wahlen,
sondern davor, ermordet zu werden.«
Jörg Schindler
Mail: [email protected]

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Ausland

PARLIAMENT TV / REUTERS
Parlamentarier, Redner Johnson bei Schlagabtausch im britischen Unterhaus: Wie ein Schulhofrüpel
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