Der Spiegel - 28.09.2019

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88 DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019

W


enn Michel Barnier, der Brexit-
Unterhändler der Europäischen
Union, in diesen Tagen öffentlich
auftritt, legt er häufig seine Stirn in Falten.
»Wir sind offen für die Ideen und Vor-
schläge des Vereinigten Königreichs«, sag-
te der Franzose etwa beim Treffen deut-
scher Zeitungsverleger am Dienstag in
Berlin. Von einem Durchbruch allerdings
könne keine Rede sein. »Ich sehe keinen
besonderen Grund für Optimismus.«
Im kleinen Kreis allerdings hört sich
der Brexit-Diplomat etwas anders an. Bis
zum Ende des Parteitags der britischen
Tories Anfang Oktober werde sich bei den
Verhandlungen wenig tun, sagte Barnier
im Gespräch mit Parlamentariern un-
längst in Straßburg. »Aber danach öffnet
sich ein kurzes Fenster der Gelegenheit.«
Die Brexit-Verhandlungen zwischen
Großbritannien und der EU mögen festge-
fahren sein. Dennoch verdichten sich die
Hinweise, dass es beide Seiten vor dem
EU-Gipfel Mitte Oktober noch einmal mit
einer Einigung versuchen wollen. Die Zeit
drängt, denn nach heutigem Stand treten
die Briten am 31. Oktober aus der EU aus.
In den vergangenen Tagen schickten
die Briten mehrfach Papiere mit der
Überschrift »Property of Her Majesty’s


Govern ment« nach Brüssel. Darin ent -
halten sind Ideen, wie eine harte Grenze
in Nordirland vermieden werden kann,
auch wenn die dafür bereits vereinbarte
Notfallregel (»Backstop«) wegfallen
würde. Premier Boris Johnson lehnt den
Backstop kategorisch ab, es ist der Kern
des Konflikts bei den Verhandlungen.
Noch zeigen sich die EU-Beamten un-
beeindruckt. »Die Vorschläge sind nicht
geeignet, den Backstop zu ersetzen«,
heißt es. Doch das könnte sich ändern.
Der Grund: Wie Barnier streben drei wei-
tere entscheidende Akteure im Brexit-
Drama ein Abkommen an – wenngleich
aus unterschiedlichen Gründen.
Johnson will die nächsten Unterhaus-
wahlen gewinnen, die vermutlich nach
dem Brexit-Datum stattfinden. Um die
Brexit-Partei in Schach zu halten und seine
Tory-Anhänger zu begeistern, muss er
sein großes Versprechen halten und Groß-
britannien pünktlich aus der EU führen,
allerdings ohne das Chaos, das mit einem
Ausstieg ohne Abkommen folgen würde.
Angela Merkel drängt ebenfalls auf
einen Deal. Die Bundeskanzlerin fürchtet,
dass die wirtschaftliche Flaute in Deutsch-
land schnell in eine ausgewachsene Rezes-
sion münden könnte, wenn es nach

einem Austritt der Briten ohne Vertrag zu
wirtschaftlichen Einbrüchen käme.
Auch Frankreichs Präsident Emmanuel
Macron will möglichst ein Abkommen.
Er beobachtet mit Sorge, wie der Brexit-
Virus die EU zu schwächen droht, aus -
gerechnet in Zeiten, in denen die Union
vor großen Problemen steht: maues Wirt-
schaftswachstum, grassierender Populis-
mus, ungelöste Migrationsfragen. Macron
will das Brexit-Thema vom Tisch haben.
Als Einfallstor für ihr Werben haben die
Briten Berlin ausgemacht. »Die deutsche
Regierung ist pragmatischer, was einen
Kompromiss angeht«, sagt der Tory-Abge-
ordnete Greg Hands. Der ehemalige briti-
sche Handelsminister hat zusammen mit
einer Kommission ein Papier zu den »alter-
nativen Arrangements« erarbeitet, die den
Backstop ersetzen sollen. Derzeit tingelt er
damit durch die Hauptstädte der EU.
Die bisherige Linie der EU, das Austritts-
abkommen auf keinen Fall mehr zu ver -
ändern, könnte bröckeln – wenn die Briten
endlich rechtlich verbindliche Vorschläge
vorlegten. Präzise Eingriffe in das soge-
nannte Protokoll zu Irland, das den Back-
stop enthält, gelten in Brüssel als machbar.
Sogar Irlands Premier Leo Varadkar
scheint offen dafür. Denkbar ist zum Bei-
spiel, nicht ganz Großbritannien in einer
Zollunion mit der EU zu belassen, sondern
den Backstop auf seinen eigent lichen
Anwendungsfall Nordirland zu reduzieren.
Der Rest Großbritanniens könnte dann
eigene Handelsabkommen abschließen,
ein sehnlicher Wunsch der Brexiteers.
Johnson seinerseits hat bereits zu er-
kennen gegeben, dass Vieh und Lebens-
mittel in Nordirland künftig weiterhin
nach EU-Regeln behandelt werden könn-
ten. Das wäre ein wichtiger Schritt, denn
Agrarprodukte machen etwa ein Drittel
des inneririschen Handels aus. Die EU
drängt nun auf eine Lösung für alle Wa-
ren. Sie will verhindern, dass Produkte,
die nicht den EU-Standards entsprechen,
nach dem Brexit über den Schleichweg
einer irischen EU-Außengrenze ohne
Kontrollen in den Binnenmarkt gelangen.
Die »alternativen Arrangements«, mit
denen London das Problem lösen will,
überzeugen die EU-Beamten bislang nicht,
etwa der Vorschlag, ein Verzeichnis ver-
trauenswürdiger Spediteure aufzubauen,
die beim Grenzübertritt nicht mehr kon-
trolliert werden müssten.
In Brüssel wächst die Sorge, dass die Zeit
für eine Einigung knapp wird und Johnson
am Ende ohnehin die Mehrheit fehlt. Am
liebsten sähe man es daher, wenn die Briten
für den Notfall schon mal den offiziellen
Brief vorbereiten würden, mit dem sie um
eine Verlängerung der Brexit-Frist bitten.
Markus Becker, Peter Müller,
Christoph Schult

EuropaBei den Brexit-Verhandlungen drängt Boris Johnson überraschend
auf ein Abkommen mit der EU. Gelingt ein Deal in letzter Minute?

Alternative Arrangements


GONZALO FUENTES / REUTERS
Politiker Merkel, Macron: Unterschiedliche Interessen, gleiches Ziel
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