Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1
deltas zu einer einzigen Megacity zusam-
menzufassen, darunter auch die Sonderver-
waltungsregionen Hongkong und Macau.
Das neue Auslieferungsgesetz, sagt
Wong damals, sei ein besonders grober
Verstoß gegen das »hohe Maß an Autono-
mie«, das Hongkong einst versprochen
wurde. Doch er hat Zweifel, dass es der
Opposition gelingen werde, noch einmal
so viele Menschen auf die Straße zu brin-
gen wie während der prodemokratischen
Regenschirm-Proteste 2014. »Vor fünf Jah-
ren war es leicht, 100 000 Menschen zu
mobilisieren«, sagt er. »Heute sind wir da-
rauf nicht vorbereitet, denn heute wissen
die Menschen, welchen Preis sie für zivilen
Widerstand zahlen müssen.«

Fast alle führenden Köpfeder Regen-
schirm-Bewegung sind seit 2014 vor Ge-
richt gestellt, manche zu langen Haftstra-
fen verurteilt worden. Wong schaut wäh-
rend des Interviews immer wieder auf sein
Handy: Er hat am Tag darauf einen Pro-
zesstermin, ihm droht erneut die Verhaf-
tung. Er ist nicht zuversichtlich, was seine
eigene und die Zukunft der Opposition be-
trifft; für viele junge Hongkonger sei die
Regenschirm-Bewegung bereits ein Stück
Geschichte, sagt er. »Ich fürchte, in zehn
Jahren bin auch ich für sie nur mehr eine
historische Figur.«
Noch etwas anderes mache ihm Sorgen,
sagt Joshua Wong, bevor er zu seinem
nächsten Anwaltstermin aufbricht: dass er
wegen seiner Haftstrafe den Kinostart des
Science-Fiction-Films »Avengers: End -
game« versäumen könnte. Wie die meis-
ten Hongkonger seiner Generation ist
Wong leidenschaftlicher »Avenger«-Fan.
Er ist gespannt darauf, wie deren Abrech-
nung mit Thanos endet, dem Superschur-
ken aus dem Marvel-Universum.
Vier Wochen später hat die Stimmung
in Hongkong gedreht. Täglich berichten
die Medien über den Streit um das Auslie-
ferungsgesetz. 12 000 Demonstranten sind
Ende März auf die Straße gegangen,
130 000 am 28. April – viele Studierende,
aber auch Arbeiter, Angestellte, Geschäfts-
leute. Es ist die größte Demonstration seit
dem Ende der Regenschirm-Bewegung.
Weitere Proteste und Onlinepetitionen
folgen im Mai, doch niemand rechnet da-
mit, was am 9. Juni passiert: Hunderttau-
sende, nach Angaben der Organisatoren
mehr als eine Million Menschen zwängen

sich durch Hongkongs Straßen und verlan-
gen die Rücknahme des Gesetzes.
Regierungschefin Lam hat Korrekturen
an ihrem Entwurf vorgenommen, aber
denkt nicht daran, ihn zurückzuziehen.
Noch am Abend der Massendemo lässt sie
erklären: Das Gesetz werde wie geplant
drei Tage später vorgelegt. Da das Regie-
rungslager im nur zur Hälfte demokratisch
gewählten Parlament eine Mehrheit hat,
steht praktisch fest, dass das Gesetz be-
schlossen wird. Selbst ein Millionenmarsch
in dieser Siebenmillionenstadt reicht nicht
aus, um die Regierung zum Einlenken zu
bewegen – mit dieser bitteren Erkenntnis
gehen die Demonstranten nach Hause.
Am 12. Juni kommen sie zurück. Dieser
Tag wird zum Wendepunkt der Krise. Tau-
sende blockieren den Legislativrat, um den
Abgeordneten den Zutritt zu verwehren
und eine Abstimmung zu verhindern. Die
Wut der Demonstranten ist so groß, dass
sie das Gelände des Parlaments stürmen.
Die Polizei reagiert mit Festnahmen, Pfef-
ferspray und Tränengas. Zum ersten Mal
steigen Rauchwolken brennender Barrika-
den über der Innenstadt auf.
Drei Tage später suspendiert Lam das
Gesetz, das sie monatelang ohne Rück-
sicht auf die Opposition vorangetrieben
hat. Noch nimmt sie es nicht endgültig zu-
rück. Doch Zuversicht und Resignation ha-
ben die Seiten gewechselt.
»Wenn diese Stadt je einen eigenen Feier -
tag bekommt, dann müsste es dieser


  1. Juni sein«, sagt die Anwältin Ng. »An
    diesem Tag haben die Protestierenden ihre
    Regierung in die Knie gezwungen. Ob es
    eine gute Idee war, das Parlament zu stür-
    men, sei dahingestellt. Doch ich bezweifle,
    dass das Gesetz anders zu verhindern ge-
    wesen wäre.«
    Vom 12. Juni an liegt das Momentum
    bei der Protestbewegung. Sie entfaltet
    über die nun folgenden Monate eine ge-
    sellschaftliche Kraft und internationale
    Sichtbarkeit, die selbst im historischen Ver-
    gleich ähnlicher Bewegungen bemerkens-
    wert ist. Das verdankt sie drei Faktoren:
    dem Zorn und der Kreativität der Protes-
    tierenden, der Plumpheit der Regierung
    und der oft exzessiven Gewalt der Polizei.
    Von Woche zu Woche überraschen die
    Demonstranten ihre Gegner mit immer
    neuen Aktionen. Sie protestieren im Re-
    gierungsviertel und in Wohnbezirken, be-
    setzen Shoppingmalls und rufen Schul-


streiks aus, demonstrieren vor Polizeiwa-
chen und demolieren U-Bahn-Stationen.
Sie wechseln zwischen großen, friedlichen
Demonstrationen und kleinen Flashmob-
Attacken, die oft mit Tränengas und Bil-
dern prügelnder Polizisten enden.
Im Kern der Bewegung etabliert sich
eine digital versierte, hoch mobile Stadt-
guerilla, die sich über Chatgruppen in
Netzwerken wie LIHKG und Telegram
verständigt. »Guardians of Hong Kong«
heißt eine der Gruppen, in Anspielung auf
eine Serie der Marvel-Comics.
Wenn die Polizei die Protestierenden
an einem Ende der Stadt stellen will, sind
die sogenannten Frontliners oft längst
schon auf dem Weg ans andere. Sie haben
ihre »Avengers«-artigen schwarzen Uni-
formen, Gasmasken und Knieschützer ge-
gen Jeans und T-Shirts getauscht, um im
Stadtbild unterzutauchen. In der Regel hat
die Polizei das Nachsehen.

Die Bewegung legt Wert darauf, amorph
und führerlos zu bleiben. Das ist eine der
Lehren aus den gescheiterten Regen-
schirm-Protesten, deren prominenteste
Vertreter fast alle vor Gericht gelandet
sind. Sie erscheinen der neuen Protest -
generation naiv und ungeschickt.
Joshua Wong hat Mitte Mai seine Haft-
strafe angetreten und verfolgt die ersten
Massenproteste staunend im Gefängnis.
Als er am 17. Juni entlassen wird und gleich
zu einer Blockade des Polizeihauptquar-
tiers aufruft, wird er in den sozialen Netz-
werken scharf zurückgepfiffen: wie er auf
die Idee komme, eigenmächtige Komman-
dos zu erteilen? Solche Entscheidungen
werden in der neuen Protestbewegung
nicht von Einzelnen getroffen, sondern
von allen, die an den betreffenden Chat-
gruppen beteiligt sind und dann darüber
abstimmen.
Der Einfallsreichtum der Bewegung
könnte professionelle PR-Agenturen inspi-
rieren. Im Juni bereits erscheinen erste, per
Crowdfunding finanzierte Anzeigen in füh-
renden europäischen und amerikanischen
Medien – es dauert Wochen, bis die Regie-
rung mit einer eigenen Kampagne nach-
zieht. Mitte August, als Protestierende am
Flughafen einen chinesischen Journalisten
verprügeln und international Kritik laut
wird, entschuldigt sich die Bewegung. Ende
August stellt sie eine Protesthymne ins In-
ternet, »Glory to Hong Kong« genannt. Sie

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Ausland

Juni 2019 Juli August September

Parlamentsdebatte zum
Auslieferungsgesetz
wird verhindert

erster Massen-
protest


Demonstranten
stürmen Parlament

Betrieb am Flughafen
Generalstreik wird blockiert

Im Ausnahmezustand Massenproteste in Hongkong

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