Die Welt - 05.10.2019

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05.10.19 Samstag, 5. Oktober 2019DWBE-HP


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28 DIE LITERARISCHE WELT DIE WELT SAMSTAG,5.OKTOBER2019


R


étif de la Bretonne hat keine
Tagebücher, sondern Nacht-
geschichten geschrieben. Er
war ein Nachtmensch, der
über Jahre nur vier Stunden
Schlaf brauchte. Im Morgen-
grauen legte er sich für zwei
Stunden hin und am Mittag schlief er noch
einmal zwei Stunden. Ist das Ausgeschlafen-
sein für Europas Hochleistungseliten Privi-
leg und der Nachtschlaf heilig geworden, so
schrieb sich Rétif als Nachtkauz die Nächte
um die Ohren. Er brachte sie zu Papier. Seine
Nächte gehörten Paris. Den Nacht- und

Schattenseiten der geliebten Stadt sind sie in
aufklärerischer Absicht gewidmet.
Wir, die wir alle irgendwie dabei sind, von
der Stadt aufs Land zu ziehen, um uns dort
unseren Gärten zu widmen, ist diese Liebes-
erklärung an die damals größte Stadt der
Welt und seine Hommage an das Stadtleben
unglaublich ergötzlich: Rétifs Pladöyer für
die Bäder in der Seine lässt uns auf hundert
neue solcher Flussbäder hoffen. Angesichts
der vielleicht bequem-praktischen, aber
nichtsdestoweniger schlicht hässlichen
Sneakers, die jetzt alle überall tragen, ist
Rétifs unnachgiebiges Plädoyer für die ho-

Prostituierten, fast noch Kinder, zur Marqui-
se. Die Marquise sorgt wohltätig für die Um-
setzung vieler der vom Erzähler als notwendig
erachteten Maßnahmen. In der Pariser Nacht-
geschichte als Morgengabe des Erzählers für
die Marquise sind Motive der höfischen Lie-
beskunst erhalten und im tatsächlich Heilsa-
men der Geschichten klingen Boccaccios No-
vellen an, die ein erlauchter Kranz von jungen
Männern und Frauen sich wie an einem Lie-
beshof erzählt, um der pestverseuchten Stadt
in einer arkadischen Gegenwelt des Geschich-
tenerzählens zu entkommen.
Bei allem Versuch, das nächtliche Paris
gutwillig zu betrachten, scheinen die Perver-
sionen der Nachtaktivisten doch durch die
Geschichten durch. Wenn die Studenten der
Anatomie, denen es chronisch an Leichen für
ihre Ausbildung mangelte, beispielsweise die
Leichen junger, gerade begrabener Mädchen
vom Friedhof stehlen und ihnen die Brust
öffnen, klingt dann in diesem ausschließlich
der Notwendigkeit und dem Wissensdurst
geschuldeten Verhalten nicht ein stark ne-
krophiles Moment an? Obwohl wir in der
nächsten Szene erleichtert von einer Schein-
toten hören, die durch die Anatomiestuden-
ten wieder lebendig wird. Und wenn der
Liebhaber seine verstorbene Geliebte le-
bensecht als Wachspuppe nachstellt, ihr sein
ganzes Leben weiht, ihre Garderobe in Glas-
kästen wie Reliquien verwahrt und diese
Wachspuppe jeden Tag umzieht, springt ei-
nen da nicht in der Pietät des trostlos Lie-
benden als Puppenfetischismus an? So blü-
hen Baudelaires Fleurs du Malbereits im vor-
revolutionären Paris. Unvermutet fühlt man
sich in die jüngste Gegenwart der Kölner
Domplatte zu Sylvester befördert, wenn wir
von dem Ausrauben, dem Umzingeln und
obszönen Begrabschen von Frauen in Män-
nergruppen während des Karnevals hören.
Oder in die jetzige Debatte um häusliche Ge-
walt, wenn es dem Erzähler gerade noch ge-
lingt, eine junge Frau davor zu bewahren,
von ihrem Verehrer abgestochen zu werden.
„Die Nächte von Paris“ sind in drei Teile
geteilt: die Nächte vor der Revolution 1789,
die nächtliche Woche 1789 der Revolution
und 20 Nächte zwischen 1790 und 1793.
Rétifs „Nächte“ erzählen in der sorgfältigen
Auswahl und Kommentierung von Reinhard
Kaiser nach dem Tod der Marquise auch von
einem der dunkelsten Jahre der Stadt, vom
Terreur, dem Bürgerkrieg, der Paris erschüt-
terte, und den Säuberungen, als die Guilloti-
ne alles in Blutbäche verwandelte. Unter ei-
ner solchen Todesangst, in der die „ziellose,
beispiellose Grausamkeit“ der „Männer, die
Frankreich nun schamrot werden lassen“ –
das waren Männer der Schreckensherrschaft


  • werden alle aufklärerischen Tugenden in
    Paranoia hinweggeschwemmt. Wir lesen von
    der Hinrichtung des Königs und von der Kö-
    nigin, die wie Vieh zur Guillotine gekarrt
    wird. Von der Angst, die sein Freund und
    Kollege Mercier um sein Leben hat, als er die
    Verurteilung der Girondisten verurteilt. „Die
    Revolution war gut“, schreibt Rétif, „nicht
    gut aber waren jene, die sie machten.“
    Trotzdem ist es wunderbar und tröstlich,
    mit Rétif durch die von ihm so geliebte Stadt
    mit ihren reizenden, oft bizarren, manchmal
    unheimlichen Menschen zu streifen. Die
    Nächte von Rétif, getragen von einem Gefühl
    der Mitmenschlichkeit, das man in Paris im-
    mer noch überall atmet, bringen einem die
    Stadt nah. Der Leserin kann man nur wün-
    schen, dass es ihr so geht wie dem Erzähler:
    „In diesem Mischmasch von Gedanken ver-
    gesse ich eine Zeit lang, wo ich bin, und kom-
    me schließlich an der östlichen Spitze der Île


gesse ich eine Zeit lang, wo ich bin, und kom-
me schließlich an der östlichen Spitze der Île

gesse ich eine Zeit lang, wo ich bin, und kom-

Saint-Louis wieder zu mir. Wie wohltuend es
doch ist, einen Platz zu haben, den man liebt!
Ich kam mir vor wie neugeboren.“

Rétif de la Bretonne: Die Nächte von Paris.
Aus dem Französischen von Reinhard Kaiser.
Galiani, 528 S., 28 €.

VVERLAG GALIANI BERLINERLAG GALIANI BERLIN

D


ie digitale Revolution verän-
dert unser Dasein? Nebbich!
Das ist gar nichts gegen die
Umbrüche, die die analoge
Welt erlebt hat. Das 19. Jahr-
hundert ist und bleibt das große Paradigma
für den Fortschritt mit allen seinen guten
wie schlechten Seiten. Und die Hauptstadt
des 19. Jahrhunderts war nun mal Paris –
nicht London oder Berlin.

VON TILMAN KRAUSE

Der Umbau von Paris von einem mittelal-
terlich verwinkelten, verschmutzten, ver-
stunkenen Gemeinwesen zu der strahlend
schönen Stadt, die wir heute kennen, ge-
schah in circa achtzehn Jahren. Befohlen
von Kaiser Napoleon III., ausgeführt vom
Präfekten Haussmann. Das ist bekannt, das
wissen heute selbst die Billigtouristen, die
Paris allmählich zu einem Unort machen.
WWWas ihnen (und auch kundigeren Parislieb-as ihnen (und auch kundigeren Parislieb-
habern) vielleicht nicht immer klar ist: Die
neue Stadtwerdung von Paris zwischen 1852

und 1870 muss man als Spitze des Eisbergs
betrachten. Eines Eisbergs, der da heißt:
Fortschritt um jeden Preis. Fortschritt der
Mobilität (Eisenbahnen), Fortschritt der
Macht (Kolonialismus). Fortschritt als Aus-
weis von Zivilisiertheit und Geschmacks-
kultur à la française. Generiert durch den
Primat des Ökonomischen in einem Aus-

ç
rimat des Ökonomischen in einem Aus-

ç

maß, das bis dahin unbekannt war. Wie sich
diese Gemengelage auf alle Bereiche des so-
zialen Lebens erstreckte, wie sie Reichtum
in ungeahnten Dimensionen ermöglichte,
aber auch Armut in erschreckenden Formen
hervorrief und wie sie schließlich auch in die
WWWelt der Künste und des Geistes hinein-elt der Künste und des Geistes hinein-
spielte, das wird jetzt ausgerechnet von
einer deutschen Literaturwissenschaftlerin
durchdekliniert.
Das Ergebnis kommt so argumentativ ein-
leuchtend wie stilistisch glanzvoll daher. Nicht
zuletzt deshalb, weil der Titel, den Walburga
Hülk-Althoff, ihres Zeichens Professorin für
romanische Literaturen an der Universität Sie-
gen, für ihre Darstellung gewählt hat („Der
Rausch der Jahre“) offenbar auch darstelleri-

sches Programm ist. Tatsächlich wie auf Koks
wirkt vieles hier geschrieben: rasant, tempera-
mentvoll, witzig, immer wieder zu wundervol-
len erzählerischen Inseln sich emporschwin-
gend, hin und wieder aber auch krass abstür-
zend in die Gefahr, die alle unbedingten Fans
laufen, nämlich in orgelnder Beredsamkeit too
much informationzu verabreichen.
Diese Ambivalenz passt aber gut zur be-
schriebenen Epoche, die die Autorin vor
allem durch den Gegensatz von Rückschritt
und Fortschritt gekennzeichnet sieht. Den
Rückschritt erblickt sie in dem, was sie den
„monarchistischen Retroschick“ des Zwei-
ten Kaiserreichs nennt, also jenen Neofeuda-
lismus Napoleons III., der sich auch mit
beinharter Unterdrückung politisch Anders-
denkender verbinden konnte. Und mit jener
Megalomanie, die sich nicht nur in pompö-
sen Damenroben und Inneneinrichtungen
austobte. Sondern auch in den berüchtigten
Massenfeten, die das Kaiserpaar vor allem in
seinen „Séries de Compiègne“ abfeuerte, wo
bis zu tausend Gäste (und nicht hundert, wie
die Verfasserin schreibt, der auch andere

Schnitzer unterlaufen) das schöne Barock-
schloss im Nordosten von Paris überrann-
ten. All diese Unternehmungen unter dem
„Second Empire“, wie die Franzosen die be-
schriebene Epoche nennen, hatten von An-
fang an keine gute Presse. Vor allem die In-
tellektuellen und Schriftsteller wetterten da-
gegen, was das Zeug hielt. Am besten brachte
es vielleicht der „poète maudit“ Baudelaire
auf den Punkt (die Schilderung seines einsa-
men Todes im Sommer des aufgekratzten
Weltausstellungsjahres 1867 gehört zu den
herzergreifenden Stellen des Buchs). Denn
Baudelaire definierte den allseits beschwore-
nen Fortschritt als „Abnahme der Seele und
Zunahme der Materie“.
In dieses Horn tuteten auch die Kollegen
Gustave Flaubert oder die hier endlich ein-
mal ausgiebig als Quelle gewürdigte George
Sand sowie jene Brüder Edmond und Jules
de Goncourt, deren voluminöses und läster-
mäuliges Tagebuch, bei dem sich Walburga
Hülk-Althoff weidlich bedient, ja vor einigen
Jahren auch den deutschen Buchmarkt er-
reichte. Was die Literaturwissenschaftlerin

allerdings wohl ein wenig überschätzt, ist
der heuristische Wert dieser Auslassungen
von Schriftstellern, deren politische „Analy-
sen“ oft genug als „kritisches Bewusstsein“
verkaufte Projektionen eigener Entbehrun-
gen und Enttäuschungen sind. Lasst sie Er-
folg haben, dann verstummt ihre Polemik ge-
gen die Zeitläufte meist sehr schnell. Flau-
bert ist dafür ein gutes Beispiel.
Doch diese Einwände ändern nichts daran,
dass hier in florian-illiesscher Kulturge-
schichtsschreibungsmanier ein sattes Pano-
rama jener Pariser Jahre herausgekommen
ist, als Feiern und Vögeln noch ganz unschul-
dig als Dienst am Fortschritt begriffen wer-
den konnte. Unendlicher Spaß verband sich
für dieses eine Mal in der Geschichte mit
ästhetischem Niveau. Nicht zuletzt, weil die
alten Eliten in den Geschmacksbildungspro-
zess noch eingebunden waren. So entstand
eine Balance, die wohl für immer dahin ist.

Walburga Hülk-Althoff: Der Rausch der
Jahre. Als Paris die Moderne erfand.Hoff-
mann & Campe, 415 S., 26 €

Als der Kapitalismus noch geholfen hat


Feiern für den Fortschritt: Eine Erinnerung an die Zeit, in der Paris alle anderen Metropolen in den Schatten stellte


DIE


AUFGEKLÄRTE


SEITE DER


NACHT


Spaziergänge als Therapie:


Rétif de la Bretonne


schreibt eine Hommage an


die größte Stadt der Welt.


Von Barbara Vinken


hen Absätze, die einen so leichten, graziösen
Gang befördern, reizend.
Geschichten haben in Rétifs Nächten zu-
nächst einmal eine ganz praktische, therapeu-
tische Funktion. Bei seinen nächtlichen Spa-
ziergängen, die ihn in dieser Nacht bei seinem
alljährlichen Pilgergang in die Rue Saintonge
dem Andenken einer verflossenen Geliebten
galten, hört der Erzähler eine – klar – schöne,
junge, reiche Frau schwer seufzen, eine Mar-
quise, wie sich herausstellt. Er verwickelt sie
in ein Gespräch über sein Lebensglück als ar-
mer, aber viel liebender und viel geliebter
Mann, der erfüllt von seiner Hände Arbeit
lebt. Immer neugierig, sperrt er Augen und
Ohren auf und durchstreift vom Lande kom-
mend Nacht für Nacht die Stadt seiner Träu-
me. „Die Nächte von Paris“ sind in vieler Hin-
sicht ein Frauenbuch. Denn vor allem liegt
dem Erzähler das Wohl des schönen Ge-
schlechtes am Herzen. Und das braucht eine
Stadt, in der es frei atmen und sich sicher und
glücklich bewegen kann. Verwaltungsrefor-
men, was das Horten von Vorräten angeht, die
die Stadt aushungern, mehr Gemüsegärten,
eine besser funktionierende Kanalisation,
Straßenfeger, eine Hundesteuer, die Forde-
rung, kein Stroh in der Stadt zu verbrennen
und den Müll nicht in den Fluss zu kippen,
weniger Karossen in den Straßen – es sieht
fffast so aus, als ob die Pariser Stadtverwaltungast so aus, als ob die Pariser Stadtverwaltung
noch immer aus Rétifs Beobachtungen lernt.
Die schöne Marquise erzählt von verzwei-
feltem Lebensüberdruss; an den Männern,
an der Liebe, am Leben kann sie keinen Ge-
fallen finden. Melancholisch depressiv, töd-
lich gelangweilt, verbringt sie schlaflose
Nächte. Dieser glückliche Mann hier, den die
Stadtluft trotz seiner Armut frei gemacht
hat, gefällt ihr aber, sie liebt seine Geschich-
ten. Vielleicht bewundert sie auch die Kraft
seiner Liebe, der in allen Frauen die eine ge-
liebt hat, um die er immer noch jeden Tag
Tränen vergießt. Auf Anhieb erlösen diese
Nachtgeschichten sie wunderbar zuerst von
ihrer Schlaflosigkeit; das Geschenk des erlö-
senden Schlafes wird ihr zuteil und sie wird
von ihrem Lebensekel geheilt. Die Gleichheit
einer galanten Situation, in der die Marquise
dem einfachen Handwerker, aber doch freien
und frei liebenden Mann nicht befehlen darf,
sondern sie ihn, an dessen Geschichte sie
solches Gefallen gefunden hat, bittet, sie je-
de Nacht zu besuchen, wird gegen die Hie-
rarchie der Stände gestellt.
Das Schreiben über die Liebe in all ihren
Facetten tritt an die Stelle des Liebema-
chens. Denn zwar wird der Erzähler in das
Palais der Marquise gelassen, aber während
ihrer Stelldichein ist immer eine Kammer-
zofe anwesend und sie geschehen abgeschie-
den durch ein Gitter hindurch, als ob eine
Nonne Besuch empfängt. Die Pariser Nächte
schreiben sich so in das bedrohliche Zusam-
menspiel von Eros und Thanatos ein, wie es
das tyrannisch orientalische Szenario von
„1001 Nacht“ bestimmt. Dort erzählt das
Mädchen Liebesgeschichten um ihr Leben,
statt Liebe zu machen. Sie fesselt den Sultan
nicht im Liebesspiel durch ihre körperlichen
Reize, sondern Nacht für Nacht durch ihre
Erzählkunst. Dieses tyrannisch bedrohliche
Szenario wird in Rétifs „Nächten von Paris“
in jeder Hinsicht zurechtgerückt und zum
Heil, Leben, zur Freiheit der Liebe und zur
Nächstenliebe gewendet.
Die Kunst zu erzählen wird aus dem Szena-
rio von 1001 Nacht, in dem der herrschende
Mann die Gewalt über Tod und Leben über die
unterworfenen Frauen hat, gelöst. Gefesselt
wird der Sultan durch seine Lust zu hören –
und die Erzählerin kommt mit dem Leben da-
von. Die Marquise, in ihrer Lust, Geschichten,
die das Leben schreibt, zu hören, befiehlt
nicht und droht nicht, sondern bittet werbend
um Besuch und Geschichte in einer freien Be-
ziehung. Im Morgengrauen verlässt er sie.
Marquise und Erzähler bilden ein Paar, das
Gutes tut. Der Erzähler schickt die jungen

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