Er war ein großer Spieler. Der georgi-
sche Komponist Giya Kancheli jonglier-
te weitläufig mit Raum-Zeit-Konstruk-
ten, die in seiner Musik zu organisch
fließenden Formen von erstaunlichen
Ausmaßen anwuchsen. Sein Engage-
ment in der Film- und Theatermusik
ist dabei durchaus spürbar: Er will star-
ke Stimmungen erzeugen. Das eine
oder andere Chorstück fiel dabei recht
populistisch aus, auf schlichter Jazz-
Harmonik aufbauend, mit wind-
schlüpfrig summenden, raunenden
Chormassen. Da wird der fundamenta-
le Unterschied zur westlichen, zumal
der strengen bundesrepublikanischen
Avantgarde offenbar, da zeigt sich die
Verbundenheit mit der polnisch-balti-
schen Klangtradition, wie sie Arvo Pärt
oder Henryk Górecki erfolgreich pfleg-
ten – und dafür besonders hierzulande
mit dem Vorwurf des Kitsches konfron-
tiert wurden.
Aber sie haben alle, und Kancheli
ganz besonders, jenseits des auch mate-
riellen Erfolgsdrucks beachtliche Wer-
ke hinterlassen, die über das breiten-
wirksame Hantieren mit musikali-
schen Effekten und Formen hinausge-
hen. „Vom Winde beweint“ ist so ein
Stück, das Kancheli mit einer schlich-
ten Melodie einsetzen lässt, die wie ein
neugieriger Fremder in den Raum tritt,
um sich am Ende in schierer Verzweif-
lung zu verirren. Die Stille als pathe-
tisch aufgeladener leerer Raum ist da-
bei ebenso ein Topos wie der rauschhaf-
te Klangexzess spätromantisch-neo-
klassizistischer Prägung. Es ist aber
auch ein Stück über die Erhabenheit
der Melancholie und die Schönheit der
Trauer, wie man sie in dieser harmoni-
schen Großräumigkeit seit Richard
Strauss nur noch sehr selten zu hören
bekam. Am Mittwoch verstarb Giya
Kancheli 84-jährig in seiner georgi-
schen Heimatstadt Tiflis, in die er nach
längeren Aufenthalten in Berlin und
Antwerpen, wo er seit 1995 lebte, zu-
rückgekehrt war. helmut mauró
Er ist stets präsent und doch kaum
greifbar:Der indische Dirigent
Zubin Mehta war lange Jahre Chef-
dirigent der New Yorker Philharmo-
niker, später Generalmusikdirektor
der Bayerischen Staatsoper und
nebenbei Musikdirektor des Israel
Philharmonic Orchestra. Nun sind
Einspielungen und Live-Mitschnit-
te aus 50 Jahren erschienen, mit
vielen Solisten und sechs Orches-
tern: den Wiener, Berliner, New
Yorker Philharmonikern, den Israel
und Los Angeles Philharmonics
und dem New Philharmonia Orches-
tra. 94 CDs sind es für „The Comple-
te Columbia Album Collection“
(Sony) geworden, darunter einige
Schätze und auch weniger Brisan-
tes. Komplette Opernaufnahmen
sind darunter, große Symphonik
von Beethoven bis Strauss, Neu-
jahrs- und Sommernachtskonzerte.
Plötzlich Wagner. Tristan, Götter-
dämmerung, Parsifal. Montserrat
Caballé als etwas abgespeckte spa-
nisch-leichte Brünnhilde, deshalb
nicht weniger betörend-tragisch.
Die New Yorker Philharmoniker
hoch konzentriert, sich nach und
nach in diese schier unausweichli-
che Düsternis hineinsteigernd.
Auf der langen Liste der Solisten,
mit denen Mehta zusammengear-
beitet hat, finden sich neben Be-
rühmtheiten und B-Prominenz der
letzten 40 Jahre auch ein New Yor-
ker Live-Mitschnitt der Jahrhun-
dert-Legende Vladimir Horowitz
mit dem dritten Klavierkonzert von
Sergej Rachmaninow. Die besonde-
re Mischung von Überempfindlich-
keit und harter Ruppigkeit vor dem
Hintergrund der orchestral ausba-
lancierten New Yorker Philharmoni-
ker hinterlässt starken Eindruck.
Man kann dieses Konzert hier un-
mittelbar vergleichen mit einer
Aufnahme des Pianisten Vladimir
Feltsman, begleitet vom Israel Phil-
harmonic Orchestra.
Das spielt zwar international
nicht in der ersten Liga, behauptet
sich aber in dieser Edition auch
umfänglich recht tapfer. Wenn man
dann aber hört, wie locker und
doch leidenschaftlich Mehta mit
den Wiener Philharmonikern Jean
Sibelius’ „Finlandia“ als durchaus
transnationale Hymne musiziert,
wie versöhnlich die Symphonische
Fantasie der „Frau ohne Schatten“
mit den Berliner Philharmonikern
oder wie spannungsgeladen er die
große Alpensymphonie von
Richard Strauss klangzelebriert,
dann ist man auch wieder versöhnt
mit der Welt. helmut mauró
von jakob biazza
M
an muss das alles vom En-
de her hören. Vom Anfang
aus ergibt es keinen Sinn.
Nichts davon. Demba Nabé
ist schließlich tot, und der
Fußballmannschaft, die die elfköpfige Ber-
liner BandSeeedja nicht nur zahlenmäßig
immer war, sondern auch im Auftreten,
fehlt damit, nun, da müsste man sich jetzt
mit Spielerpositionen auskennen, aber: so
ein krummbeiniger Hallodri halt, der wild
im Strafraum herumstochert und jeden
stört. Ein Thomas Müller, der Unruhe stif-
tet und sich irgendwie quer zu allem steht,
was sonst auf dem Platz passiert. Aber
eben so, dass die Robbens und Ribérys ih-
re zwei Tricks auffahren können und da-
mit geradlinig und unbeirrbar wirken.
Ungefähr so haben Seeed funktioniert,
als Demba Nabé noch da war, mit seinen
krummbeinigen Melodien und verzoge-
nen Phrasierungen. Mit seinem verboge-
nen Tanzstil und der Gesangsrhythmik,
die sich gegen alles sperrte. Die seltsam
eckig in den Playbacks stand, und damit
aber eben die Räume geöffnet hat.
Klassisches Meister-Trio vorne an der
Bühnenkante also: Einer gaukelt und
sperrt und schnörkelt herum, die andern
beiden kommen über die Flügel, irgend-
wer zieht zur Mitte, Flanke, Tor. Kein
Schnickschnack. Keine ausgeklügelten
Doppelpässe. Und um Gottes willen kein
ewiges Klein-Klein-Gezockel. Hin und wie-
der ein Abstauber vom Krummbein, das
war’s.
Seeed, das werden sie womöglich nicht
gern hören, waren der FC Bayern (Saison
2015/2016) des Deutsch-Dancehall. Und
jetzt ist der Abstauber plötzlich weg, und
weil man im Pop ja nie ganz weg ist, ist er
natürlich trotzdem immer noch ein biss-
chen da. Auf dem letzten Song, „What A
Day“, den man eben dringend als ersten hö-
ren sollte. Ein dunkler Song. Was sollte es
auch sonst sein, wenn einer aus dem Grab
oder dem Himmel oder von wo auch im-
mer noch einmal seine Liebe schickt. Und
eben deshalb, weil da so viel Liebe mit-
klingt und weil das Hirn ein gnädiger
Freund ist, der Hoffnung auch noch im
größten Unheil findet, ist es natürlich
auch ein strahlender Song.
Die Band hat die Rohversion auf einer
Festplatte entdeckt und fertig produziert.
Orchesterschwer. Viele Geigen und ein
dumpf weinendes Klavier. Und dazwi-
schen stemmt Demba Nabés Stimme ein
letztes Mal die Räume frei, und wer das ge-
hört hat und dann direkt weiterspringt,
also beim ersten Stück der Platte landet,
„Ticket“, einer Art Dreampop-Afro-Beat-
Groove mit sehr elegant gezupften Gitar-
ren und synthetisch gefilterten Bläsern
und wirklich enorm schön, bei dem wird
sehr beseelt etwas kaputt gegangen sein.
Und dann ist es vorbei mit Sommer-Sonne-
Karibik-Assoziationen. Dann ist nur noch
Herbst.
Wer das neue Album von Seeed also
vom Ende her hört, für den kann „Bam
Bam“ (Warner) nichts anderes sein als eine
Abschiedsplatte. Vom Freund, klar. Von
der Liebe. Wahrscheinlich endgültig von
der Jugend. Aber womöglich – das ist rei-
ne Spekulation, aber klingen tut es ein biss-
chen so – auch vom Fan.
Es ist nämlich vor allem ein überra-
schend friedliches Album, eines, das mit
sich und der Welt versöhnt zu sein scheint.
Kaum Kampf. Wenig Kraftmeierei. Und
wer jetzt stutzt (Wieso Kampf? Was denn
für Kraftmeierei?), der sitzt womöglich ei-
nem Irrtum auf, der die Band ungefähr
seit der Gründung begleitet.
Es heißt ja immer, Seeed hätten das
Land einen Tick lockerer gemacht, und
das ist sicher nicht ganz falsch. Ein paar
deutsche Hüften dürften beim Hören der
Alben die Steifheit überwunden haben,
und ein paar Gedanken womöglich auch.
Und trotzdem sollte man die Aussage so
nicht stehen lassen. Klar: Die Berliner
Band war eine der sehr wenigen, denen es
von ihrem Debüt („New Dubby Conque-
rors“, 2001) an gelang, Reggae und Dance-
hall für das hiesige Publikum wirklich ge-
konnt zu übersetzen. Aber da liegt ja schon
das Missverständnis: Beim Dancehall geht
es, zumindest in den härteren Varianten,
ungefähr so viel um Lockerheit wie bei ei-
ner Versteigerung preisgekrönter Zucht-
kampfhunde.
Dancehall ist in seiner ganzen DNA kom-
petitiv. Ein Wettstreit unter Sängern, wer
aus einem bestehenden Playback, einem
sogenannten Riddim, den Song mit dem
größten Wumms macht. Seeed waren sehr
gut darin, Songs mit Wumms zu machen,
aus bestehenden Riddims und aus selbst-
produzierten. Eigentlich noch mehr aus
den selbstproduzierten. Alles sollte immer
möglichst direkt sein, möglichst konkret,
möglichst ehrlich. Wenig Kunstfiguren,
null Schnörkel, quasi keine Metaphern.
Deshalb geht es der Band auch da etwas
wie dem FC Bayern: viele Fans, viel Hass.
Wer meint, gute Kunst müsse sich beim
Entstehen und Wachsen immer auch et-
was selbst zusehen und reflektieren, müs-
se die eigene Metaebene erfassen und mit-
denken, für den war Seeed vom Fleck weg
eine große Scheußlichkeit.
„Eigentlich müsst’s von Amts wegen/
mal richtig was aufs Dach geben/Puris-
ten, Style-Polizisten mit 7:0 vom Platz fe-
gen“. So klang das auf dem ersten Song der
ersten Platte.
Und es nahm sich schon damals sehr,
sehr ernst.
Und im direkten Gespräch tut es das im-
mer noch. Die meiste Zeit jedenfalls. Man
trifft Pierre Baigorry, noch bekannter als
Solokünstler Peter Fox, und den Saxofonis-
ten Moritz Delgado dort, wo Berlin noch et-
was von dem rauen Anstrich hat, den viele
der Zugezogenen suchen, die sie hier gera-
de nicht mehr so gerne mögen: Nähe Görlit-
zer Park, zweiter Hinterhof, ein Aufzug
fährt einen direkt ins Studio- und Probe-
raumstockwerk der Band rauf. Oben
herrscht ein bisschen Unordnung und
freundliche Plauderstimmung. Aber das
Prinzip ist schon noch: im Zweifelsfall erst
mal Angriff, dann erst dem Gesagten hin-
terherspüren, noch mal nachdenken und
gegebenenfalls abmildern.
So zum Beispiel: Hat die Me-Too-Debat-
te die Art, Texte zu schreiben, beeinflusst?
Antwort Baigorry: „Das war schon im-
mer ein Thema: Kann man einfach so über
geile Ärsche singen? Aber dann denk ich
mir: Wenn eine Frau einen geilen Arsch
hat, warum soll ich das nicht sagen dür-
fen? Neun von zehn Frauen freuen sich da
drüber.“ Pause, hinterherspüren: „Ande-
rerseits hab ich keine Ahnung, wie es ist,
die zehnte Frau zu sein, die sich davon be-
lästigt fühlt – haben aber bisher keinen Är-
ger diesbezüglich bekommen.“
Ungefähr so geht das von Thema zu The-
ma, bis zur Frage, ob denn immer klar war,
dass es überhaupt noch ein Seeed-Album
geben wird?
Antwort Delgado: „Es war klar, dass wir
was veröffentlichen wollen – es stand ja
auch eine Tour an.“ Hinterherspüren.
„Hätten aber auch nur drei Songs wer-
den können.“
Antwort Baigorry: „Für mich waren die
Fragen größer. Eher so: Haben wir noch
was zu sagen? Soll man überhaupt noch
Musik machen? Ich frag mich das jeden-
falls immer. Bringt das noch was?“ Hinter-
herspüren. Keine Ergänzung.
Die Antwort, die er selbst nicht geben
kann, weil er dafür zu sehr Künstler ist,
und wie sollte ein echter Künstler schon
wissen, ob es das braucht, was er gerade ge-
macht hat, lautet: eher schon.
„Bam Bam“ gehört nicht zum Allerbes-
ten, was die Band bislang gemacht hat. Da-
für aber ziemlich sicher zum Ehrlichsten.
Ein warmes, wohliges Album zum Reinku-
scheln. Wohlstandsbürger mit Häusern in
Brandenburg singen über die Freiheiten,
die Geld bringt. Sie loben (zusammen mit
Mitgliedern vonDeichkind) Sex mit Licht
und allen Dellen und Röllchen, die das aus-
leuchtet. Sie streiten mit ihren Frauen. Sie
nehmen Abschied. Keine Posen mehr, und
noch weniger Metaphern: „Ich seh’ die
Welt in Cinemascope / Wunder gewohnt,
doch es knallt immer noch so / Big Bang,
Gott oder Simulation / So oder so, die Sa-
che hat sich gelohnt!“
Und damit ist dann doch auch wirklich
alles sehr direkt gesagt.
In diesem Frühsommer war eine
Berliner Ausstellung mit dem Titel
„Die Ostdeutschen“ ein Überra-
schungserfolg, der ein wenig am
überregionalen Publikum vorüber-
ging, weil sie in einer alten Fabrik-
halle in Schöneweide stattfand.
Wäre man hingegangen, hätte man
die Ironie des Titels erkannt: Die
Fotografien aus der DDR, die hier
zu sehen waren, zeigten kein Kollek-
tiv, keinen Stamm, sondern eine
Gesellschaft von Eigensinnigen
und Individualisten, und zwar
durch alle Schichten und Berufe.
Der Urheber dieser beeindrucken-
den Meisterwerke aus einem hal-
ben Jahrhundert war Roger Melis,
der 2009 verstorbene Ziehsohn des
Dichters Peter Huchel, der eine
Künstlerexistenz am Rande der
DDR führte und erst nach der Wen-
de zu einer nationalen Berühmtheit
wurde.
Melis, eigensinnig wie die von ihm
fotografierten Menschen, arbeitete
mindestens ebenso viel für sich
selbst wie für Auftraggeber in Zei-
tungen und Magazinen. Er entwi-
ckelte dabei eine frappierende
Fülle von Möglichkeiten, die von
der szenischen Industrie- und Ar-
beitsreportage, der Architektur-
und Landschaftsfotografie bis zum
mal repräsentativen, mal intimen
Porträt reichten. Legendär sind
seine durchaus glamourösen Bilder
von Künstlern und Autorinnen der
DDR. Auch die Architekturen und
Landschaften dieser Aufnahmen
werden nie um ihrer selbst willen
gezeigt, es sind Bühnen für die
Menschen, die darin leben und
arbeiten.
Es ist die alte, noch handwerklich
geprägte Industriearbeit, die hier
historisch zum letzten Mal in den
Blick kommt. Dabei hat Melis, das
zünftische Bildnis von Berufstäti-
gen, das August Sander in den
Zwanzigerjahren entwickelte, inge-
niös neu belebt, und zwar so klas-
senübergreifend wie sein Vorbild:
Vom Arbeiter im Reifenwerk bis
zum bürgerlichen Denkmalpfleger
sind alle Schichten vertreten. In
manchen Fällen hat er seine Leute
sogar Sander’sche Haltungen und
Gesten nachspielen lassen, eine
besonders reizvolle Form des szeni-
schen Zitats. Auch das gehört zum
stillen Witz, den viele von Melis’
Arbeiten zeigen. Aus dem meist
menschenfreundlichen Humor
wird Sarkasmus, wenn Melis bei
Umzügen und Paraden hinter die
am Straßenrand stehenden Zu-
schauer geht und die Rückseite aus
Spott und Langeweile beim Publi-
kum zeigt. Auch diese besondere
Form von Ungläubigkeit gehörte
zur DDR und wirkt bis heute nach.
Nun hat der Lehmstedt-Verlag zwei
fantastische Bildbände vorgelegt,
als Neuauflage „In einem stillen
Land“ und als Neuerscheinung den
Band „Die Ostdeutschen“ (224 Sei-
ten, 28 Euro), der einen Querschnitt
aus Melis’ Nachlass bietet, ausge-
wählt von seinem Erben Mathias
Bertram.
Das „Justus“ genannte Kinderpor-
trät entstand 1964, da war Melis 24
Jahre alt. Die zarte Mitte zwischen
scheuem Rückzug und gespannter
Neugier, die das Bild zeigt, entfaltet
eine ganze Szene, in der man die
Kommunikation zwischen dem
porträtierten kleinen Menschen
und seinem fotografierenden Ge-
genüber ahnt. Das Genre des Bildes
kommt selbst in den Blick, weil
über dem Kind ein zweites Porträt
hängt. Ein weiteres, in den Rahmen
rechts gestecktes Bild, zeigt den
Vater – es ist der Dichter Johannes
Bobrowski – mit dem Sohn als
Säugling. Alle drei kindlichen Au-
genpaare sind auf den Betrachter
gerichtet. Justus, das porträtierte
Kind, dürfte heute 60 Jahre alt
sein. Vielleicht sollte man öfter an
solche Aufnahmen denken, bevor
man Kollektive wie „die Ostdeut-
schen“ bemüht. gustav seibt
Der georgische
Komponist Giya
Kancheli, geboren
1935 in Tiflis, lebte
lange Zeit in Ant-
werpen und feierte
in seiner Musik
die Schönheit der
Melancholie.
FOTO: IMAGO
Niemand kann die Gentrifizierung
ganz allein stoppen, aber versuchen
kann es jeder. Also plakatiert das
Berliner HAU, Hebbel am Ufer, die
halbe Stadt mit Parolen („Miete
essen Seele auf“), lädt Künstler,
Mieterinitiativen und Wissenschaft-
ler ein und veranstaltet unter dem
trotzigen Motto „Berlin bleibt!“ ein
Festival über „Stadt, Kunst, Zu-
kunft“, das heute zu Ende geht. Zur
Eröffnung inszenierte die Musike-
rin Christiane Rösinger mit einem
Dutzend Künstlern und Aktivisten
ein kämpferisches „Musical zur
Wohnungsfrage“. Der Titel der
Show, „Stadt unter Einfluss“, meint
den verheerenden, weil unzurei-
chend regulierten Einfluss der Kapi-
talmärkte und der Spekulation auf
die realen Lebensverhältnisse.
Rösinger ist vielleicht nicht die
eindrucksvollste Sängerin der Welt,
aber eine böse-witzige Texterin,
deren melancholischen Zeilen die
Durchschlagskraft eines Agitprop-
Hits entwickeln. Immer wieder
stellt sie präzise die richtigen Fra-
gen, „Ist das noch Boheme oder
schon Unterschicht?“ zum Beispiel.
Weil Kämpfe um Wohnraum im-
mer auch Klassenkämpfe sind,
verhöhnt sie in einem ihrer neuen
Lieder die Hipster aus gutem Hau-
se, die gerne im Szeneviertel Sub-
kultur spielen und die Wohnungs-
frage für sich mit einer Eigentums-
wohnung von Mutti gelöst haben,
„erben muss sich wieder lohnen“.
Das Musical plündert gut gelaunt
den Schlager-Kosmos, um „eine
neue Wohnung ist wie ein neues
Leben“ oder „wohnungslos durch
die Nacht“ zu trällern. Zwischen-
durch gibt es sachdienliche Hinwei-
se, etwa dazu, wie Mietpreisexplosi-
on und Bodenspekulation funktio-
nieren oder was Mieter machen
sollten, wenn Investoren ihren
Wohnraum in Eigentumswohnun-
gen umwandeln wollen. Dazu gibt’s
Oldschool-Schrammel-Indierock.
gerne wirdTon, Steine, Scherben
zitiert, die schon für die Häuser-
kämpfe der Siebziger den Sound-
track lieferten. Weil sich alles wie-
derholt und die Kapitalverwer-
tungslogik am Wohnungsmarkt nie
schläft, klingen die Hausbesetzer-
Hymnen von Rio Reiser an diesem
Abend frisch wie am ersten Tag.
Sogar das gute alte Solidaritätslied
kommt zum Einsatz, für die Nachge-
borenen versehen mit dem freundli-
chen Hinweis, wenn ihnen so ein
altmodisches Wort wie „Solidari-
tät“ irgendwie uncool und abgestan-
den vorkomme, könnten sie auch
gerne „Togetherness“ oder „Com-
munity“ sagen. Rösingers Ironie ist
gleichzeitig böse und charmant.
peter laudenbach
Der Liedermacher und Dichter Wolf Bier-
mann hat seinen im Alter von 90 Jahren
gestorbenen früheren DDR-Weggefähr-
ten und Freund Günter Kunert mit einem
letzten Lied gewürdigt. Kunert und er hät-
ten wie andere in der DDR darum gerun-
gen, wie weit man sich mit dem SED-Re-
gime anlegen sollte und könne, sagte Bier-
mann, 82. am Freitag bei der Trauerfeier
in Schenefeld im Kreis Steinburg in
Schleswig-Holstein. Es habe in der DDR
die Dableiber und die Weggeher gegeben.
Kunert sei nun weggegangen. „Was wird
bloß aus unseren Träumen, in diesem zer-
rissenen Land? Die Wunden wollen nicht
zugehen unter dem Drecksverband“,
sang Biermann. Kunert, der damals noch
in der DDR lebte, hatte 1976 als einer der
ersten eine Protestresolution gegen die
Ausbürgerung Biermanns aus der DDR
unterzeichnet. 1979 ließ man ihn in den
Westen ziehen. dpa
Es heißt ja immer, „Seeed“
hätten das Land einen Tick
lockerer gemacht
„Eigentlich müsst’s von
Amts wegen / mal richtig was
aufs Dach geben.“
Wider den Wumms
„Ich seh’ die Welt in Cinemascope / Wunder gewohnt“: Das neue Album der Berliner Band „Seeed“,
der einst das Kunststück gelang, den Dancehall ins Deutsche zu übersetzen, klingt überraschend friedlich
Komponist Giya
Kancheli gestorben
Lied für Kunert
16 FEUILLETON HF2 Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019, Nr. 230DEFGH
Zubin Mehta
„Big Bang, Gott oder
Simulation /So oder so,
die Sache hat sich ge-
lohnt!“ – Peter Fox
(4. v. re.) und Moritz
Delgado (2. v. re.) mit
Seeed.FOTO: WARNER
„Die Ostdeutschen“
FOTO: LEHMSTEDT
FOTO: HEBBEL AM UFER
FOTO: SONY
Das Musical „Stadt unter Einfluss“
DREI FAVORITEN DER WOCHE