interview: sven haist
und christofkneer
I
lkay Gündogan muss nicht weit lau-
fen bis zu diesem Kaufhaus in Man-
chester, in dessen Dachrestaurant er
einen Tisch reserviert hat. Gündo-
gan wohnt in einem Apartment in
der Innenstadt, sein Nachbar ist Trainer
Pep Guardiola. Gündogan, 28, kann so gut
wie kaum ein Zweiter über modernen Fuß-
ball sprechen, er hat in Dortmund unter
Jürgen Klopp gespielt und spielt seit drei
Jahren für Guardiolas Manchester City.
Gündogan spricht über die unterschiedli-
chen Stile der beiden weltweit führenden
Trainer und erklärt seine unglückliche Rol-
le im deutschen Nationalteam, mit dem er
nun gegen Argentinien (Test) und in Est-
land (EM-Qualifikation) spielt. Und er äu-
ßert sich zum umstrittenen Foto mit dem
türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdo-
gan, das seine DFB-Karriere gefährdete.
Den Pistazienkuchen im Dachrestaurant
empfiehlt er sehr, rührt ihn aber nicht an.
SZ: Herr Gündogan, wissen Sie, was Pep
Guardiola am Dienstagabend in der Pres-
sekonferenz nach dem 2:0 gegen Zagreb
in der Champions League gesagt hat?
Ilkay Gündogan: Ich habe es über Twitter
mitbekommen. Ich bin oft bei Twitter un-
terwegs und folge auch brav meinem Klub,
da wurden nach dem Spiel ein paar Zitate
veröffentlicht. Da habe ich es gefunden.
Guardiola sagte: „Ihr könnt euch gar
nicht vorstellen, wie gut der Junge ist. Il-
kay war eine der besten City-Verpflichtun-
gen jemals.“ Wie haben Sie reagiert?
Ich hänge das nicht so hoch. Ich habe in
meiner Karriere schon so viel Lob und Kri-
tik abbekommen, dass man im Umgang et-
was relaxter wird. Ich denke jetzt nicht:
Wow, ich bin der Größte! Wenn so was vom
eigenen Trainer kommt, freut einen das na-
türlich, der Trainer ist mein Chef, und man
will ja, dass der Chef einen gut findet.
Aber Guardiola ist ein berüchtigter Lob-
hudler, er findet auch Spieler „top-top-
top“, die er gar nicht so top findet. In Mün-
chen sagte er mal, er wolle „1000 Dantes“.
Dabei war ihm der eine schon fast zu viel.
Ich bin sicher, dass er das Lob bei mir ernst
meint. Ich weiß ja, dass er mich sehr
schätzt, er wollte mich unbedingt haben.
Kritisieren kann er schon auch, aber das
macht er immer persönlich, nie öffentlich.
Das 2:0 gegen Zagreb war eines dieser
Spiele, die man bei Guardiola-Teams oft
sieht: Es wurde mit hoher Dominanzrouti-
niert runtergespielt. Kann man sich als
Spieler über dieses Muster noch freuen?
Man ärgert sich eher, weil man nicht höher
gewinnt. Wir hatten wieder genügend
Chancen, um noch mehr Tore zu schießen.
Aber vielleicht ist es ganz gut, dass wir uns
ein bisschen schwergetan haben. In den
letzten Jahren sind wir oft ein bisschen zu
leicht durch die Vorrunden marschiert und
dann manchmal am ersten richtig schwe-
ren Brocken gescheitert. Ein bisschen Wett-
bewerbshärte tut uns zu diesem frühen
Zeitpunkt gut. Unsere Vorrundengruppe
hätte ruhig noch schwerer sein können.
Spürt die Mannschaft, dass ähnlich wie
bei Paris St. Germain alle nur darauf war-
ten, dass dieses teure Projekt scheitert?
Oder was ist der Grund, dass ManCity zu-
letzt meist ausschied, wenn es in der
Champions League richtig ernst wurde?
Wir haben definitiv genügend Talent und
Klasse im Team, um sehr weit zu kommen,
aber es hat immer irgendwie das letzte biss-
chen gefehlt. Ich hab da auch keine Erklä-
rung. Ich kann höchstens Real Madrid als
Gegenbeispiel nennen, da könnte man ja
umgekehrt fragen: Was haben die, was an-
dere nicht haben? Die haben dreimal in Se-
rie die Champions League gewonnen und
nicht unbedingt den besten Fußball ge-
spielt. Ich finde, Sergio Ramos ist bei Real
die Figur, die das alles verkörpert, diese
Überzeugung zu sagen: Hey, wir sind Real
Madrid, und in den entscheidenden Mo-
menten sind wir da. Wir, nicht ihr. Dieses
Selbstverständnis fehlt uns noch.
Hat Jürgen Klopps FC Liverpool dieses
Selbstverständnis nicht auch?
In der Premier League strahlen sie das defi-
nitiv aus, ja. Da gehen die anderen Teams
schon eingeschüchtert und mit einer gewis-
sen Ehrfurcht ins Spiel und denken: Puh, ei-
ne Klopp-Mannschaft, das wird schwer.
Sie haben beim BVB unter Klopp gespielt
und spielen jetzt unter Guardiola. Es gibt
Schlechteres für einen Spieler.
Ja, ich begreife das schon als Privileg: die
beiden prägenden Trainer der Gegenwart
zu erleben. Und dann sind das auch noch
die zwei Trainer, die stellvertretend stehen
für die beiden unterschiedlichen Stile, die
es auf dem Markt gerade gibt.
Sie sind der ideale Kronzeuge für den mo-
dernen Fußball. Ist es arg verkürzt, wenn
man sagt: Klopp lehrt das Spiel gegen den
Ball, Guardiola das Spiel mit Ball?
Verkürzt ist es schon, aber es steckt viel
Wahrheit drin. In einem aber sind sich bei-
de sehr ähnlich: Sie leben volle Intensität
vor, sind wahnsinnig fordernd, im Trai-
ning kannst du keine Sekunde abschalten.
Sonst gibt’s ’nen Anschiss(schmunzelt).
Wie unterscheiden sich die Anschisse von
Pep und Klopp?
Nicht sehr ... Bei Klopp hat man vielleicht
noch ein bisschen mehr Angst, weil er so
groß und laut ist und immer so viele Zähne
zeigt(lacht). Aber als Spieler will man bei-
de glücklich machen, es macht einen stolz,
wenn ein so großer Trainer mit einem zu-
frieden ist. Für solche Trainer gibt man ger-
ne Vollgas.
Definieren Sie doch mal die Unterschiede
zwischen Pep- und Klopp-Fußball.
Pep gibt einem mehr Lösungsmöglichkei-
ten an die Hand, wenn es darum geht, tief
stehende Gegner auszuspielen. Er will
mehr Automatismen haben, es gibt klare
Vorgaben und Muster: Wenn ich in dieser
oder jener Zone den Ball habe, kann ich das
Spiel mit dieser oder jener Option fortset-
zen, weil ich immer genau weiß, wo meine
Mitspieler sich befinden. Klopp hat ein frei-
eres System, es geht in erster Linie um die
aggressive Balleroberung, und dann lässt
er den Offensivspielern mehr Freiheiten,
sich auszutoben. Pep- und Klopp-Mann-
schaften würden gegen einen identischen
Gegner völlig unterschiedlich spielen.
Nämlich?
Wenn der Gegner Pressing spielt und früh
attackiert, dann würden wir versuchen,
ihn auszukombinieren, von hinten raus, be-
ginnend mit unserem Torwart. Kloppo
würde vermutlich lange Bälle schlagen las-
sen, um dann vorne den Ball zu erkämpfen
und schnell zum Abschluss zu kommen.
Was ist besser?
Das kann man unmöglich sagen. Solange
man die passende Mannschaft hat und den
jeweiligen Stil mit Überzeugung spielt,
kann beides wunderbar funktionieren.
Ihr Favorit ist aber klar, oder?
Ich genieße den Pep-Stil natürlich. Ich lie-
be es, den Ball zu haben, ihn dann aber
auch schnell wieder weiterzuspielen. Das
passt zu meinem Stil, die kleinen Drehun-
gen, die schnellen Pässe, die Weiterleitun-
gen, das Überspielen des Gegners mit klei-
nen, feinen Mitteln. Ich mag es, wenn alles
im Fluss ist. Wahrscheinlich passen Pep
und ich deshalb so gut zusammen. Aber
ich kam auch unter Klopp gut zurecht.
Wenn Sie heute unter Klopp spielen wür-
den: Wie würde sich Ihr Spiel verändern?
Ich müsste sicher anders spielen. Ich wäre
etwas freier in meinen Aktionen, was auch
seine Vorteile hat ... dafür müsste ich mich
viel mehr orientieren auf dem Platz, weil
ich nicht wie im Pep-Fußball immer schon
blind wüsste, wo mein Mitspieler steht.
Sie haben Ihren Vertrag bei ManCity inzwi-
schen bis 2023 verlängert, aber ein biss-
chen gezögert mit der Unterschrift. Wie
verlockend waren die anderen Angebote?
Ich habe nicht wirklich gezögert, dem Ver-
ein und mir war eigentlich schon klar, dass
wir zusammen weitermachen wollen. Wir
haben nur den richtigen Moment für die
Unterschrift gesucht.
Pep Guardiola wollte Sie angeblich mal
zum FC Bayern holen, um mit dem Duo
Thiago/Gündogan das Duo Xavi/Iniesta
nachzubauen. Stimmt das?
Sagen wir so: Meine Quellen würden das be-
stätigen... Heute kann man das ja offen
sagen: Es gab mal Gespräche mit Bayern
München, wir sind aus unterschiedlichen
Gründen nicht zusammengekommen.
Und jetzt bin ich sehr glücklich bei ManCi-
ty, ich glaube nicht, dass es im Moment ei-
nen Verein gibt, bei dem ich besser aufge-
hoben wäre. Und einen Trainer auch nicht.
Wie unterschiedlich sind Guardiola und
Klopp denn als Typen?
Gar nicht so sehr, finde ich. Beide sind for-
dernd, aber menschlich astrein, und sie
können auch lässig und wie Kumpels sein.
Pep ist mein Nachbar, wir wohnen im sel-
ben Gebäude, und wenn wir uns auf den
Gängen begegnen, ist das immer sehr herz-
lich und familiär. Das war bei Kloppo auch
immer so. Ich glaube, wenn ich nicht deren
Spieler wäre, könnte ich mit beiden extrem
gut befreundet sein.
Liverpool ist nicht weit weg von Manches-
ter. Trinken Sie mit Klopp ab und zu einen
Kaffee oder einen Five-o’clock-Tea?
Nein, unsere Klubs sind ja auch Rivalen.
Wir sehen uns nur bei Spielen, aber wir
schreiben manchmal bei Whatsapp.
Bei so viel Prägung durch so große Trai-
ner: Wollen Sie auch mal Trainer werden?
Ich will erst mal noch ein bisschen Fußball
spielen, aber ja: Trainer zu sein, würde
mich sehr reizen.
Der Trainer Gündogan würde bestimmt
Ballbesitzfußball spielen lassen, oder?
Auf jeden Fall. Immer nur Kurzpässe!
(lacht)Aber ich will auch Thomas Tuchel
nicht vergessen, unter dem ich in Dort-
mund ein Jahr gespielt habe. Der gehört
für mich definitiv in die Pep/Klopp-Liga,
ein extrem guter Trainer, der inhaltlich nä-
her bei Pep ist, aber auch einen anderen
Stil spielen lassen kann. Ich schätze und
mag ihn sehr, ich kam auch menschlich
mit ihm super klar. Ich bin schon sehr
dankbar, dass ich in meiner Vereinskarrie-
re gerade diese drei Trainer erleben durfte.
Eine Entschädigung für die zahlreichen
Verletzungsängste, die Sie in Ihrer Karrie-
re begleitet haben?
Weiß ich gar nicht. Ich bin eher dankbar,
dass ich immer noch auf so hohem Niveau
spielen kann. Ich hab vor Kurzem noch mal
gedacht: Das war alles nicht schön, es gab
Frustrationen, Sorgen, Trauer, vor allem
nach der langwierigen Rückenverletzung,
aber ich möchte nachträglich nichts mis-
sen. Es war alles für irgendetwas gut.
Wie nah waren Sie bei dieser Rückenver-
letzung einem Karriereende?
Das Problem war die Ungewissheit, die ver-
schiedenen Diagnosen, die Frage „operie-
ren oder nicht operieren“. Natürlich gab es
dunkle Momente, in denen ich dachte: Ob
ich jemals wiederkommen kann? Und
wenn ja: Erreiche ich wieder mein Niveau?
Ich kann mich noch an den ersten Lauf erin-
nern, den ich nach der OP gemacht habe,
das war wie eine Befreiung, ich dachte: Oh
Mann, wie gut fühlt sich das an! Die OP war
doch die richtige Entscheidung!
Sie sind seit zwei, drei Jahren weitgehend
verletzungsfrei. Was ist da los?
Ich habe einen Osteopathen und einen Per-
sonaltrainer inzwischen, die mich einmal
in der Woche besuchen. Mein Aufwärmpro-
gramm und meine Ernährung habe ich pro-
fessioneller gestaltet. Ich bin in einem gu-
ten Rhythmus und habe das Gefühl, dass
ich noch einiges vor mir habe. Viele schöne
Momente habe ich ja leider verpasst.
Als Miroslav Klose seine Karriere beende-
te, hat der DFB-Manager Oliver Bierhoff
einen schönen Satz gesagt: Er sagte, wenn
man die Auge schließe, sehe man Klose im
Nationaltrikot vor sich...
... das stimmt, Miro im Nationaltrikot, wie
er einen Salto schlägt.
Inwelchem Trikot sieht man Ilkay Gündo-
gan, wenn man die Augen schließt?
Gute Frage. In Deutschland sieht man
mich wahrscheinlich immer noch im BVB-
Trikot, wie ich den Elfmeter im Champions-
League-Finale verwandele. Wobei die Club-
Fans mich wahrscheinlich immer noch im
Nürnberg-Trikot sehen, das war eine tolle
Zeit damals. Im Nationaltrikot sehen mich
die Leute wahrscheinlich eher nicht.
Sie haben wegen der zahlreichen Verlet-
zungen viele Turniere verpasst, unter an-
derem den WM-Titel 2014 und werden bis
heute nicht als etablierter Nationalspieler
wahrgenommen. Sie spielen bei einem
Topklub in Europa und fliegen in Deutsch-
land doch etwas unterm Radar. Fühlen Sie
sich zu wenig wertgeschätzt?
Ja, ich fühle mich ein wenig unterschätzt,
aber ich habe auch Verständnis dafür. Ich
habe einfach zu viel verpasst. Bei der Natio-
nalelf schauen die Leute vor allem die Tur-
niere, und da war ich halt nur zweimal da-
bei, bei der EM 2012 und der WM 2018.
Beides keine Glanzpunkte in der deut-
schen Fußballgeschichte.
Ja, und 2018 hab ich ein Spiel gemacht und
2012 gar keines. Das ist einfach zu wenig,
um nachhaltig in den Köpfen der Leute zu
bleiben. Aber auch das ist dann eher wie-
der ein Antrieb für mich, dass es bei der
nächsten EM und WM erfolgreich wird.
Liegt es auch an Ihrer Position und Ihrer
Spielweise, dass Sie oft nicht so auffallen?
Ich liebe es, auf technisch hohem Niveau
simplen Fußball zu spielen. Ich liefere kei-
ne Szenen für den Jahresrückblick, ich
spiele kurz und schnell, will den Ball klat-
schen lassen, aber sauber und in den richti-
gen Fuß. Ich will das Spiel im Fluss halten,
da will ich so perfekt wie möglich sein. Ich
freu mich am meisten, wenn ich nach dem
Spiel denke: Ich habe heute keinen Ball ver-
loren, das Spiel gut verlagert und überra-
schende Räume geöffnet, und ich habe ei-
nen Chipball gespielt, der quergelegt wur-
de und zum Tor geführt hat. Ich will das
Spiel beeinflussen, auch wenn man das in
den Highlights später eher nicht sieht.
Aus ähnlichen Gründen war der große
Spanier Xavi auch nie Weltfußballer.
Ja, wahrscheinlich. Deshalb habe ich mich
auch so gefreut, als Luka Modric 2018 die
Wahl gewonnen hat, ein Mittelfeldstrate-
ge, der weder Messi noch Ronaldo heißt.
Welche Rolle sehen Sie im Moment für
sich in der Nationalelf? Aktuell wirken Sie
wie der erste und edelste Ersatzspieler.
Wir haben beim DFB zuletzt häufig mit
Fünferabwehrkette gespielt, und da ist
dann nur Platz für zwei zentrale Mittelfeld-
spieler. Da sind Joshua Kimmich als defen-
siver Part und Toni Kroos als offensiver
Part momentan gesetzt. In dieser Formati-
on gab’s zuletzt keinen Platz in der Startelf
für mich, was ich sehr schade finde. Ich
glaube schon, dass ich die Qualität habe,
der Mannschaft noch mehr zu helfen.
Sagen Sie das dem Bundestrainer?
Nein, das weiß er ja. Und was bleibt mir an-
deres übrig, als Verständnis zu zeigen? Ich
habe ja gar keine Wahl: Soll ich zu Jogi Löw
gehen und sagen, Trainer, der Joshua
muss raus oder der Toni muss raus? Das
kann und will ich mir nicht anmaßen. Ich
finde allerdings auch, dass ich mit beiden
gut zusammenspielen könnte.
Wir haben über die klar definierten Spiel-
stile von Guardiola und Klopp gespro-
chen. Täuscht es, oder sucht die National-
elf nach dem großen Umbruch noch ihren
Stil? Gegen die Niederlande überraschte
Löw mit untypischem Defensivstil, der
nach der Einwechslung Gündogan/Ha-
vertz plötzlich zum Ballbesitzstil wurde.
Wir befinden uns derzeit eben im Um-
bruch. Da ist es kein Wunder, dass noch
nicht alles automatisiert abläuft. Viele eta-
blierte Spieler sind gegangen, und die jun-
gen müssen sich auf diesem Niveau erst an-
passen. Wenn ich Kai Havertz nehme: Er
ist in seinem Alter sicher eines der größten
europäischen Talente, aber Nationalelf ist
eben noch mal was anderes als Klubfuß-
ball. Deshalb ist es für den Trainer nicht so
leicht zu entscheiden, auf wen er baut und
welcher Spielstil sich daraus ergibt.
Was glauben Sie: Welchen Fußball wird es
von der DFB-Elf bei der EM in einem Drei-
vierteljahr zu sehen geben?
Das werden wir sehen. Wir haben zwei Sys-
teme, die wir üben, die Fünferkette und
das 4-3-3, und ich bin selber gespannt, auf
welchem Niveau wir da sind. Aber wir dür-
fen einen Fehler nicht machen: Wir dürfen
nicht wegen der gescheiterten WM den
Ballbesitzfußball für tot erklären. Wir ha-
ben ein talentiertes Team, wir wollen nicht
abwarten, wir wollen den Ball haben!
Müssten Sie dann als Topspieler der füh-
renden Ballbesitzmannschaft ManCity
nicht doch zu Jogi Löw gehen und sagen:
Ich bin zweimal englischer Meister gewor-
den, ich kann gegen die Niederlande nicht
auf der Bank sitzen, ich will die Verantwor-
tung im Mittelfeld übernehmen!
Man kann sich vorstellen, dass ich nicht
hundertprozentig zufrieden war mit mei-
ner Rolle zuletzt. Gerade gegen die Nieder-
lande, den ärgsten Konkurrenten, wäre ich
natürlich gern länger auf dem Platz gestan-
den. Ich weiß aber natürlich auch, welche
Qualitäten Joshua und Toni haben. Solan-
ge wir mit Fünferkette spielen, gibt es nur
zwei zentrale Mittelfeldspieler, und dann
muss ich die Situation so akzeptieren.
Wie ist Ihr Verhältnis zu Jogi Löw?
Hervorragend. Wir schätzen uns sehr, und
ich weiß ja, dass er mit sich ringt, wenn ich
auf der Bank sitze. Er versucht mir das
auch immer zu erklären. Er mag Spielerty-
pen wie mich.
Hängt Ihnen beim Thema Positionierung
auch noch dieAffäre mit dem Erdogan-Fo-
to vom vorigen Mai nach? Scheuen Sie
sich auch deshalb, offensiver aufzutreten,
weil die Leute vielleicht sagen würden:
Erst stellt er sich mit Özil und Erdogan
aufs Bild, und jetzt fordert er was?
Ein paar Leute würden das sicher wieder
aufwärmen, aber insgesamt habe ich das
Gefühl, dass sich das alles wieder normali-
siert hat. Das ist auch das Feedback, das
ich von den Zuschauern bekomme. Als ich
im Juni beim Spiel gegen Estland in Mainz
ausgewechselt wurde, gab’s Applaus. Das
war ein schöner Moment für mich.
Wie sehr haben Sie die Pfiffe unmittelbar
nach dieser Affäre getroffen?
Sehr. Gegipfelt hat das ja vor der WM beim
Länderspiel in Leverkusen, ich hatte mit
ein paar Kommentaren gerechnet, aber
nicht damit, dass so viele mich auspfeifen.
Die Minuten nach dem Abpfiff in der Kabi-
ne waren schon schwer, aber ich war im-
merhin nicht allein. Ein paar Mitspieler ka-
men und haben mich getröstet. Auch vom
Bundestrainer gab’s Zuspruch.
Haben Sie nach der WM überlegt, aus dem
Nationalteam zurückzutreten wie Özil?
Nein. Ich habe bei der WM ja schon eine Ver-
besserung des Verhältnisses bemerkt. Als
ich in Sotschi gegen Schweden eingewech-
selt wurde, habe ich von den deutschen Zu-
schauern keinen Pfiff wahrgenommen.
Haben Sie in den schweren Wochen nach
dem Foto eher Reueüber IhreAktion emp-
funden oder eher Unverständnis darüber,
wie Sie dargestellt wurden?
Ich habe schnell gemerkt, dass die Sache
nicht glücklich gelaufen ist, dass ich sie völ-
lig unterschätzt hatte. Entsprechend offen
habe ich auch versucht, mit der Situation
umzugehen. Ich habe mich direkt geäu-
ßert, auf Social Media und in etlichen Inter-
views. Dass es dann hieß, ich sei nicht rich-
tig integriert, hat mich schon geärgert. Ich
bin ja so gut integriert, wie man nur inte-
griert sein kann. Das kann man ja schon
fast gar nicht mehr Integration nennen,
ich bin die dritte Generation, ich bin in
Deutschland geboren. Ich bin Deutscher.
Am Mittwoch kehren Sie mit derNational-
elf nach Dortmund zurück. Der ideale Ort
für eine endgültige Versöhnung?
Weiß gar nicht, ob es die noch braucht, ich
finde, dass das Verhältnis schon jetzt wie-
der mehr als in Ordnung ist. Ich freue mich
auf Dortmund, das ist immer noch wie
mein Wohnzimmer und definitiv eines der
beeindruckendsten Stadien der Welt.
Im März beim Testspiel in Wolfsburg hat
Ihnen Manuel Neuer nach seiner Aus-
wechslung zur Pause seine Kapitänsbinde
übergestreift. Waren Sie überrascht?
Das war eine schöne Anerkennung für
mich, ein Zeichen auch. Ich habe die Binde
dann auch mit Stolz getragen.
Neuer kam quasi überfallartig auf Sie zu
und hat Ihnen die Binde aufgedrängt?
Ja. Ich war erst auch überrascht, aber dann
hab ich mich umgesehen und gemerkt:
Okay, du bist einer der Erfahrensten hier,
also passt das schon. Ich kann mir auch gut
vorstellen, künftig in der Mannschaft noch
mehr Verantwortung zu übernehmen.
Und Löw hat das mit der Kapitänsbinde in
der Kabine gesehen und wohlwollend zur
Kenntnis genommen?
Genau. Und das fand ich gut.
„Soll ich zu Löw gehen und
sagen,der Joshua muss raus
oder der Toni muss raus?“
„Ich bin in Deutschland
so gut integriert, wie
man nur integriert sein kann.“
Nach dem offenen Zwist um die deut-
schen Nationaltorhüter gibt Bundes-
trainer Jogi Löw Marc-André ter Ste-
gen (FOTO: DPA) die versprochene Bewäh-
rungschance. Der Torwart des FC Bar-
celona wird im Testspiel gegen Argenti-
nien (Mittwoch, 20.45 Uhr, Dortmund)
im Tor stehen. Stammtorwart und Ka-
pitän Manuel Neuer, der laut Löw un-
verändert „die Nummer eins ist, so-
fern nichts Außergewöhnliches pas-
siert“, soll vier Tage später beim EM-
Qualifikationsspiel in Estland spielen.
Einziger Neuling im am Freitag berufe-
nen DFB-Kader ist der Leverkusener
Offensivspieler Nadiem Amiri. dpa
DFB-Aufgebot für die Oktober-Länderspiele
Tor:Neuer (FC Bayern), ter Stegen (FC Barce-
lona), Leno (FC Arsenal).
Abwehr:Süle (FC Bayern), Ginter (Mönchen-
gladbach), Halstenberg, Klostermann (beide
RB Leipzig), Hector (1. FC Köln), Tah (Bayer Le-
verkusen), Stark (Hertha BSC),
Mittelfeld/Sturm:Kroos (Real Madrid), Kim-
mich, Gnabry (beide FC Bayern), Brandt, Reus
(beide Borussia Dortmund), Gündogan (Man-
chester City), Can (Juventus Turin), Havertz,
Amiri (beide Bayer Leverkusen), Wald-
schmidt (SC Freiburg), Werner (RB Leipzig).
„Bei Klopp hat man etwas
mehr Angst,weil er so groß ist
und so viele Zähne zeigt.“
„Ich fühle mich
ein wenig unterschätzt“
Ilkay Gündogan ist Leistungsträger bei Pep Guardiolas Manchester City und in der deutschen Nationalelf oft nur Ersatz.
Der 28-Jährige erklärt, warum er unzufrieden über seine Rolle beim DFB ist, aber nie einen Stammplatz fordern würde.
Er vergleicht Guardiolas Fußball mit jenem seines Ex-Trainers Jürgen Klopp und sagt, wer lauter schimpfen kann.
Und er äußert sich zum umstrittenen Erdogan-Foto, dessen Tragweite er nicht erkannt habe
Ter Stegen spielt
38 SPORT HBG Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019, Nr. 230DEFGH
Ilkay Gündogans schwierigstes Spiel: Beim WM-Test gegen Saudi-Arabien im Mai 2018 wurde er vom deutschen Publikum ausgepfiffen. FOTO: THILO SCHMÜLGEN / REUTERS