Süddeutsche Zeitung - 05.10.2019

(Ron) #1
FOTO: YOUTUBE

Als Tawanda Kanhema vor zehn Jahren
aus Simbabwe nach Kalifornien gekom-
men war, wurde er häufig gefragt, ob es in
Afrika auch Autos gebe. Viele Menschen
haben eben nur ein eindimensionales
Bild von Afrika. Das Image des Konti-
nents wird seit Jahrzehnten zu einem
nicht geringen Teil von Hilfsorganisatio-
nen und Medien geprägt, die viel über
Kriege und Krankheiten berichten, aber
wenig über Erfolgsgeschichten und den
ganz normalen Alltag. Als Tawanda Kan-
hema auf Google Street View nach den Or-
ten seiner Kindheit in Simbabwe suchte,
nach Alltag und Normalität, fand er
nichts, was er den Amerikanern zeigen
konnte. In diesen digitalen Zeiten wirkt
das so, als existiere Simbabwe gar nicht.
Also setzte sich Tawanda Kanhema,
38 Jahre alt, ins Flugzeug Richtung Sim-
babwe, mietete in Harare ein Auto und
fuhr viele Tage lang durch die Haupt-
stadt, durch eine der schönsten Metropo-
len Afrikas, eine großzügig angelegte Gar-
tenstadt, mit Alleen voller Bougainvillea-
Sträuchern und grell blühender Jacaran-
da-Bäume. Er fotografierte die Hochhäu-
ser der Innenstadt und die großen Villen
der noblen Vororte. Und schließlich fuhr
er viele Hundert Kilometer weit in die alte
Ruinenstadt „The Great Zimbabwe“, film-
te dort die Überreste einer großen Kultur
aus dem 11. Jahrhundert und setzte sich in
einen Hubschrauber, der ihn über die Vik-
toriafälle brachte.
Insgesamt 3200 Straßenkilometer sei-
ner Heimat hat Kanhema mittlerweile auf
Google Street View eingestellt, um den
Menschen in der Welt ein realistischeres
Bild von Afrika und Simbabwe zu präsen-
tieren. „Viele Leute sind überrascht, weil
sie nicht dachten, dass die Leute in Afrika

so leben. Viele glauben, es gibt die Erste
Welt und die Dritte. Aber so einfach ist es
nicht. Es gibt Orte in der sogenannten
Dritten Welt, die wie die Erste aussehen
und umgekehrt“, sagt Kanhema. Nur be-
kämen das viele nicht mit, weil Afrika ein
blinder Fleck ist auf der Landkarte.
Nach Angaben von Google hat der Kon-
zern in 87 von fast 200 Ländern eine groß-
flächige Abdeckung der virtuellen Stra-
ßenkarten. Vor allem in Zentralasien und
Afrika gibt es aber große Lücken. Wer sich
ein Bild der Millionenmetropolen Kinsha-
sa in der Demokratischen Republik Kon-
go oder von Kigali in Ruanda machen will,

der kommt nicht weit. Nur in Südafrika,
Ghana, Botswana, Kenia, Nigeria und Se-
negal hat der Konzern Firmen beauftragt,
die mittlerweile viele der Metropolen ab-
gefahren sind. Der Rest muss sich selbst
helfen. Google verleiht zwar die teuren
360-Grad-Kameras, die für die Aufnah-
men notwendig sind, aber auch an die
muss man erst einmal herankommen.
Tawanda Kanhema arbeitet im Silicon
Valley als Produktentwickler, in direkter
Nachbarschaft zu Google, und konnte
mehrere Tausend Dollar für sein Projekt
ausgeben. Andere haben es da nicht so
leicht. Google sei keine öffentliche Dienst-
leistung und werde nur aktiv, wo es sei-
nen Geschäftsinteressen entspreche, sagt
Kanhema beim Gespräch am Telefon. In
Afrika erwartet Google offenbar nicht so
viele Geschäfte. Damit liegt der Konzern
aber nicht unbedingt richtig. In Harare
sind durch die Aufnahmen von Kanhema
mehrere Hundert Geschäfte und Unter-
nehmen auf den Karten von Google gelan-
det, was deren Umsätze ankurbelt. Auch
der Tourismus könnte profitieren.
Kanhema will in Zukunft Freiwillige
ausbilden, die sein Projekt in Simbabwe
und anderen afrikanischen Staaten fort-
setzen, was nicht immer ganz leicht ist,
weil die Behörden für das Fotografieren
des öffentlichen Raumes oft komplizierte
Vorschriften erstellt haben. Er selbst hat
mittlerweile auch Teile Namibias auf die
Landkarte gesetzt und ist in den Norden
Kanadas gereist, von Afrika gesehen ans
andere Ende der Welt, und ist dort Hun-
derte Kilometer weit über Eispisten gefah-
ren – zu Ureinwohnern, die mit ähnlichen
Problemen kämpfen, weil sie auf den neu-
en digitalen Weltbildern nicht vorkom-
men. bernd dörries

E


in Notstandsgesetz aus der briti-
schen Kolonialzeit nutzt die Hong-
konger Regierung, um ein Vermum-
mungsverbot durchzusetzen. Damit will
sie die Lage in der Stadt wieder unter Kon-
trolle bringen. Doch das Gegenteil wird
passieren. Die Menschen fordern bei ih-
ren Protesten eine Garantie, dass die frei-
heitlichen Grundrechte, die Peking ihnen
einst zugesichert hat, auch in Zukunft
noch etwas wert sind. Wenn nun diese
Freiheiten mithilfe eines kolonialen Über-
bleibsels eingeschränkt werden, beweist
dies: Die Angst der Bürger Hongkongs
war berechtigt. Sie können ihrer Regie-
rung nicht mehr trauen.
Die Entscheidung verdeutlicht, dass
die Regierung kein Interesse mehr daran
hat, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltentei-
lung zu bewahren, die die chinesische
Sonderverwaltungszone einst stark ge-
macht haben. Mit dem Notstandsgesetz
wird das Parlament bewusst umgangen.
Anstatt die Abgeordneten aus der Som-
merpause zu holen, nutzt die Regierung
deren Abwesenheit. Das kostet weiter Ver-
trauen und schürt neue Wut.
Die Demonstranten sind sich nicht in
allen Punkten einig. Die wichtigste Forde-
rung fast aller Hongkonger jedoch ist ei-
ne unabhängige Untersuchung der Poli-
zeigewalt in den vergangenen Wochen.
Dass die Regierung darauf nicht eingeht,
sondern die Kompetenzen der Einsatz-
kräfte mit dem neuen Gesetz sogar
stärkt, ist ein fatales Signal. Notstands-
gesetze stellen jedes rechtsstaatliche Sys-
tem infrage. Es gibt selten einen Weg zu-
rück. Das freiheitliche Hongkong scheint
Geschichte zu sein. lea deuber


D


er Mensch weiß mit seiner geisti-
gen Armut immer wieder zu ver-
blüffen. Aus Sachsen gibt es nun
tatsächlich einen politischen Anschlag
auf einen Baum zu vermelden, der gera-
de mal ein Bäumchen war. Unbekannte
sägten jene zarte Eiche ab, die an Enver
Şimşek erinnerte, der am 9. September
2000 vom NSU niedergeschossen wor-
den war. So ein Anschlag verstört noch
einmal mehr als, schlimm genug, ein ei-
lig hingeschmiertes Hakenkreuz.
Ein Baum ist ein Symbol, für das Le-
ben, für das Weiterleben, für die Güte
der Natur, die noch den Ärmsten Luft
zum Atmen gibt. Wenn gerade dieses
Bäumchen gefällt wird, ist das genau
das, was von ihm nun übrig bleibt:
Stumpf. Wenn gerade dieses Bäumchen
gefällt wird, dann hat es keinerlei Über-
treibungskomik, wenn der Regierungs-
sprecher sich dazu einlässt oder Digital-
menschen vorschlagen, man möge für
Enver Şimşek jetzt bitte einen ganzen
Wald pflanzen. Symbolische Gräuel wie
die Sägearbeit von Zwickau rechtferti-
gen symbolische Handlungen dagegen.
Sie sind notwendiger Teil einer Scha-
densbegrenzung, die Unrecht niemals
ungeschehen machen kann, die aber ei-
ne Minimalverpflichtung darstellt ge-
genüber allen Opfern rechten Terrors.
Der oder die Täter von Zwickau han-
delten im Namen des Vergessens. Sol-
chen Absichten muss man entgegentre-
ten. Eine Idee fürs Wochenende: mal ei-
ne ruhige Minute nehmen und, konkret
wie stellvertretend für alle anderen Op-
fer, des ermordeten Enver Şimşek ge-
denken. cornelius pollmer

von cathrin kahlweit

I


m Londoner Regierungsviertel konn-
te man in den letzten Tagen den Ein-
druck haben, die Vorschläge für eine
Nordirland-Lösung im Streit um den Bre-
xit seien in Brüssel auf dankbares Entzü-
cken gestoßen. Die Darstellungen der
Downing Street klangen so, als werde die
EU alles daransetzen, Boris Johnson „sei-
nen Deal“ zu verschaffen. Tory-Abgeord-
nete gratulierten herzlich, Johnson wirk-
te selbstzufrieden. Und die Opposition,
irritiert, wusste nichts Besseres zu tun,
als ihn zum Rücktritt aufzufordern. Ange-
sichts der inszenierten Euphorie auf der
Regierungsbank über den vermeint-
lichen Coup des Premierministers war
das ein Schuss ins Leere. Das Johnson-
Team hat das Kunststück geschafft, das
Königreich ein, zwei Tage lang in den
Glauben zu versetzen, der Chef sei eben
doch Hulk, der sich nur dick aufblasen
muss, dann kuscht der Gegner.
Dabei gibt es keinen Deal, keine Annä-
herung im Streit um einen Austrittsver-
trag, bisher nicht mal neue, intensive Ge-
spräche. Nur Befremden und Abwehr jen-
seits der britischen Insel. London hat die
Verhandler in Brüssel zwar in einigen
Punkten positiv überrascht, zugleich
aber zwei so große Hürden in seinen Plan
gepackt, dass Brüssel kaum darüber
springen kann.
Da ist zum einen das Vetorecht der
Belfaster Regierung zur regulatorischen
Anbindung Nordirlands an die EU, das
Michel Barnier zu Recht als „Falle“ be-
zeichnete. Und da ist die Zollgrenze zu Ir-
land, für die hochkomplexe Infrastruktur
erst noch entwickelt und organisiert wer-
den müsste. In Nordirland trifft diese
Idee, weil unüberprüfbar und wirtschafts-
schädlich, auf viel Widerstand.
Johnsons Plan ist daher keine Basis für
einen Deal, sondern – noch – ein Luft-

schloss. Die EU muss nun entscheiden,
ob sie zu Kompromissen bereit ist, die vor
Monaten noch undenkbar waren. Und ob
sie den Briten so weit vertraut, dass sie de-
ren Versprechen glaubt, Kontrollrechte
abtritt, einen Blankoscheck auf die Zu-
kunft ausstellt. Neueste Nachrichten aus
London deuten darauf hin, dass Johnson
bereit sein könnte, die Verhandlungen
über den 31. Oktober hinaus fortzuset-
zen. Das würde Luft schaffen für die in-
tensiven Gespräche, die in jedem Fall län-
ger dauern werden, als die euphorischen
Brexiteers sich das träumen lassen.

Auch die Briten müssten große Kom-
promisse machen. Die kluge Abgeordne-
te Anna Soubry hat Johnson bissig zu
dem „Deal gratuliert“, den er „mit der
ERG und der DUP“ gemacht habe. Das
bringt die Sache auf den Punkt: Johnsons
Vorschlag zielt bisher vor allem auf die Zu-
stimmung des eigenen Lagers. Er
braucht die ERG, die Brexit-Hardliner,
und die DUP, die nordirischen Unionis-
ten, für seinen Plan. Sie wollen in John-
sons Luftschloss einziehen. Aber würden
sie auch ein solides Haus kaufen, das eine
längere Bauzeit braucht, der EU mehr
Kontrollrechte über die Baufortschritte
zubilligt und der DUP mit dem Vetorecht
auch den Schlüssel wegnimmt?
In Berlin heißt es, man wolle alles tun,
um No Deal zu verhindern. Aber man ste-
he eben auch voll zu Irland. In Dublin
heißt es, Johnsons Vorschläge seien un-
durchführbar – weil sie Nordirland mittel-
bar ein Mitspracherecht über die Zukunft
der Republik Irland geben. No Deal ist da-
her, trotz des guten Willens der EU-27,
heute so real wie vor „Johnsons Deal“.

von nadia pantel

K


inderwünsche, im Plural formu-
liert, sind, eine gewisse Beschei-
denheit des Kindes vorausgesetzt,
eher leicht zu erfüllen. Ein Spielzeugauto
zum Beispiel oder Pfannkuchen zum Früh-
stück. Beim Kinderwunsch im Singular
wird es deutlich komplizierter. Dank des
medizinischen Fortschritts geht es heute
nicht mehr nur um die Frage, ob man Kin-
der möchte oder nicht, sondern darum,
welche Möglichkeiten man ausschöpfen
will, um Kinder zu bekommen, und wer
Zugang zu diesen Möglichkeiten haben
sollte.
Frankreichs Nationalversammlung de-
battiert in diesen Wochen über ein neues
Bioethikgesetz, das vorsieht, künstliche
Befruchtung auch alleinstehenden Frau-
en und lesbischen Paaren anzubieten. Im
langen Streit um diese Reform, die zu den
Wahlversprechen von Präsident Emmanu-
el Macron gehört, zeigt sich zweierlei.
Erstens: Je älter der Mensch wird, des-
to egaler ist er anderen Menschen. Diese
Abstumpfung vollzieht sich schon inner-
halb der wenigen Jahre, die es braucht, da-
mit aus einer befruchteten Eizelle ein
Kleinkind wird. Von der Leidenschaft, mit
der in Frankreich über ungeborenes und
potenzielles Leben diskutiert wird, ist we-
nig zu spüren, wenn es um die Bekämp-
fung der Probleme geborener Kinder
geht: Armut, Missbrauch, Gewalt. Diesel-
ben konservativen Politiker, die sich nun
um das Wohl von Kindern sorgen, die
ohne anwesenden Vater aufwachsen, emp-
fanden es als unzulässige Einmischung
des Staates in Familienangelegenheiten,
als vergangenes Jahr ein Gesetz verab-
schiedet wurde, das es Eltern verbietet,
ihre Kinder zu schlagen.
Zweitens kann man anhand der aktuel-
len Debatte beobachten, wie schwer es ist,
einen eindeutigen Oppositionskurs gegen

die Politik Macrons zu finden. Seine unter-
nehmerfreundliche Wirtschaftspolitik ge-
fällt den konservativen Republikanern.
Seine aufs Individuum zugeschnittene Ge-
sellschaftspolitik, in diesem Fall im Be-
reich der Familienplanung, loben Liberale
und Linke.

Entsprechend werden bei der für Sonn-
tag angekündigten Demonstration gegen
das neue Bioethikgesetz nur die ganz Ver-
bohrten auf die Straße gehen. Diejenigen,
die von „Barbarei“ und „Krankheit“ spre-
chen, wenn künstliche Befruchtung außer-
halb des Rahmens der heterosexuellen
Ehe stattfindet. Es wird bei der von konser-
vativen Katholiken initiierten Großdemo
nicht um all die berechtigten Fragen ge-
hen, die man stellen kann, wenn aus
menschlicher Reproduktion ein Markt
wird, auf dem man Wunscherfüllung kau-
fen kann. Es wird stattdessen eine Radikal-
opposition gegen alles gebildet, was nicht
dem Schema Vater-Mutter-Kind ent-
spricht. Jene Allianz, die 2012 als „Manif
pour tous“ gegen die Ehe für alle demons-
trierte, versucht ihr Comeback.
Gerade im Fall des neuen Bioethikgeset-
zes ist es erleichternd, dass die National-
versammlung sich auf die Komplexität
des Themas eingelassen hat und nicht ent-
lang von Parteilinien streitet. Gleichzeitig
wird der Protest außerhalb des Parla-
ments immer radikaler. Das ist ein Trend
aus Gelbwesten-Zeiten, den Marine Le
Pen zu instrumentalisieren weiß: Wäh-
rend die Abgeordneten diskutieren,
schreien draußen die Gegner – und Le Pen
kann behaupten, die Nationalversamm-
lung sei nicht mehr der Ort, an dem gülti-
ge Kompromisse ausgehandelt werden.

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V


ielleicht ist Sebastian Kurz ja
nun stolz auf sich: dass er ein Re-
zept gefunden hat, wie man so-
wohl etablierte demokratische
Konkurrenten als auch Populis-
ten deklassiert. Als solcher steht er indes
nur auf den allerersten Blick da. Kurz,
bald wieder Kanzler in Österreich, hat vor
einer Woche zwar auch von eigenem Ge-
schick profitiert; daraus lassen sich Leh-
ren ziehen. Vor allem jedoch verdankt sich
sein Erfolg dem Ungeschick anderer.
Er hat sich womöglich – wie so viele
Wahlsieger vor ihm – nur das prozentuale
Ergebnis angeschaut, das 37,5 Prozent für
seine Partei ausweist (und damit einen
Vorsprung von 16,3 Prozentpunkten vor
den Sozialdemokraten). Auf der Basis von
Stimmanteilen werden zwar die Sitze im
Parlament verteilt und die Mehrheitsver-
hältnisse bestimmt. Indes gibt nur ein
Blick auf die absoluten Stimmen Aus-
kunft, zu welcher Mobilisierung jemand
fähig ist. Kurz hat diesmal 194 000 Stim-
men zusätzlich geholt – zugleich jedoch
haben SPÖ und FPÖ zusammen 900 000
Wähler verloren, das ist je-
der dritte. Und es haben
diesmal 300 000 Bürger
weniger abgestimmt.
Mit anderen Worten:
Kurz hat längst nicht in
dem Maße mobilisiert,
wie andere demobilisiert
haben; die Höhe seines Er-
folgs ergibt sich aus der
Arithmetik. Was Mobilisie-
rung betrifft, waren die
Grünen, unter Führung ei-
nes Herrn Kogler, weitaus
erfolgreicher: Sie haben ih-
re Stimmen verdrei-
einhalbfacht.
Es geht nun nicht dar-
um, diesem Wahlsieger
seine Fähigkeiten abzu-
streiten. Nur schadet es
womöglich nicht, einer
Verklärung zeitig entge-
genzuwirken.A Kurz is
born? Abwarten. Demokra-
tien brauchen Helden,
schreibt der Philosoph Die-
ter Thomä, das ist gewiss richtig. In Demo-
kratien sind Politiker vonnöten, an denen
man sich orientieren kann, und an sol-
chen mit einem Spitznamen wie „Scholzo-
mat“ orientiert sich niemand. Soweit die
Bürger jedoch Wahlkämpfer als Helden be-
trachten – vor allem solche, die neu sind
auf der Bühne –, neigen sie dazu, diese
mit Erwartungen in einem Ausmaß zu be-
legen, die später nurent-täuschtwerden
können, im Wortsinne. Obama erwies sich
als leidlich guter Handwerker, mehr nicht.
Macron hat im Amt handwerklich sonder-
bare Fehler gemacht. Martin Schulz
brauchte dazu gar nicht erst ins Amt zu
kommen. Kurz hat in Österreich bisher ei-
gentlich nur eins geliefert: einen zweijähri-
gen Rodeo-Ritt mit den Hetzern von der
FPÖ. Dass die nun so zerrupft sind, dazu
hat er selbst am wenigsten beigetragen.
Das im handwerklichen Sinn Faszinie-
rende an Kurz ist: Trotz bislang bescheide-
ner Bilanz ist er derjenige Politiker in Ös-
terreich mit der größten Strahlkraft. Ist ei-
ne Kamera an, tritt er freundlich und gut
gelaunt auf; der Autor Daniel Dettling at-
testiert ihm drei Fähigkeiten, deren Be-
deutung immens ist: Gelassenheit in Spra-
che und Auftritt, moderierende Tonalität
sowie Zuversicht. Es gelingt Kurz, auf
Facebook und Instagram eine Parallel-
wirklichkeit so zu installieren, dass ihm ei-


ne Aktenschredder-Affäre absolut gar
nichts anhaben kann. Dass er inhaltlich
schwer zu fassen ist? Darauf kommt es bei
Politikern eh nicht zwingend an – zumal
Ideologien kaum noch von Belang und die
Probleme so unübersichtlich sind. Es ist
nun mal so, dass viele Bürger die Politik
nur höchst nebenbei verfolgen, es sich lie-
ber übersichtlich machen: indem sie die
Verantwortung fürs Land bei dem oder de-
nen deponieren, die ihnen irgendwie ein
gutes Bauchgefühl verschaffen.
Immer öfter gelingt dies Personen, die
Popstar-Qualität zeigen: die entweder ei-
ne etablierte Partei ummodeln (wie Kurz,
der die ÖVP in „Die neue Volkspartei“ um-
benannt und die Farbe von Schwarz auf
Türkis geändert hat) – oder die gleich eine
auf sich bezogene Organisation gründen
(wie Macron mit La République en Mar-
che). Hauptsache, sie können behaupten,
Politik „anders“ zu machen, weil sie mit
Recht annehmen, dass der Zeitgeist das
gern hört. Mitunter handelt es sich bei
den Erfolgreichen aber auch nach wie vor
um eine Gruppe durchgängig akzeptier-
ter Personen, die von
einer derzeit mächtigen
Idee und ebenfalls dem
Zeitgeist getragen wer-
den, wie die österreichi-
schen und deutschen Grü-
nen.
Die Frage, ob der Pop-
star oder die Altmodi-
schen wünschenswerter
sind, hätte etwas Bevor-
mundendes. Viel interes-
santer ist eine andere: Wie
gelingt es heute manchen
Personen oder Gruppen,
ihre Wählerschaft zu hal-
ten oder auszubauen, die
Stimmen von Menschen
mit sehr unterschiedli-
chen Lebensgefühlen ein-
zusammeln?
Macron ist dies gelun-
gen, Kurz immerhin teil-
weise. In Deutschland war
Angela Merkel damit er-
folgreich, und Winfried
Kretschmann könnte dies
weiterhin sein. Der grüne Ministerpräsi-
dent nennt sein Prinzip: „Politik des Und“.
Menschen, die sich entweder weiterhin an
Ideologien festhalten oder aber von Ängs-
ten geprägt sind, nehmen immer an, sich
entscheiden zu müssen: zwischen Ökono-
mie oder Ökologie, Heimat oder offener
Gesellschaft, Bewahren oder Gestalten.
Kretschmann hingegen sagt, es komme
auf beides an: „Die Idee des wertgebunde-
nen Gestaltens ist die konservative Idee
unserer Zeit.“ So strahlt er weit über sein
ursprüngliches Milieu hinaus, so zieht er
seine Grünen in Baden-Württemberg in
Umfragen hoch auf 38 Prozent.
Die These ist nicht allzu gewagt, dass
die Orientierung an Personen eher zu- als
abnehmen wird. Wer sich darstellen kann,
wer in seinem Handeln eine Art höhere Er-
zählung erkennen lässt und über längere
Zeit im Gespräch, aber nie im Gerede ist,
der (oder die) bedient das Bedürfnis nach
Übersichtlichkeit. Sebastian Kurz hat bis-
her vor allem Bühnenqualität bewiesen.
„Unser Weg hat erst begonnen“, schreibt
er seinen Fans bei Instagram. Na gut. Will
er länger unterwegs sein, müsste nun die
Werkstattqualität hinzutreten. Oder die
Leute wenden sich in ein paar Jahren dem
nächsten Popstar zu, und Kurz kommt in
den Medien nur noch in den Rubriken vor,
die „Was macht eigentlich ...?“ heißen.

Das Klischee vom Zehn-
kämpfer besagt: Er könne
alles ein bisschen und nichts
so richtig. Deshalb picke er
sich nicht eine Leichtathletik-
disziplin heraus, sondern absolviere an
zwei aufeinanderfolgenden Tagen je-
weils gleich deren fünf. Tatsächlich ist
kaum eine Disziplin so anspruchsvoll.
Die Zehnkämpfer laufen, springen, sto-
ßen, werfen. Sie brauchen Schnellkraft,
Kraftausdauer, Sprunggewalt, am Ende
Ausdauer. Sie müssen Anforderungen
verknüpfen, die sich eigentlich wider-
sprechen. Sie müssen viele Disziplinen
trainieren und haben doch für alles zu we-
nig Zeit. Das zehrt an den Nerven, aber
auch an den Knochen. Bei den Weltmeis-
terschaften in Doha musste Weltrekord-
halter Kevin Mayer (Frankreich) verletzt
aufgeben, so war der Weg frei für Niklas
Kaul, der als zweiter Deutscher nach dem
Schweriner Torsten Voss (1987) WM-
Gold gewann. Olympisch wurde der Zehn-
kampf 1912, die Disziplinen waren schon
dieselben wie heute. Den Frauen war zu-
nächst nur ein olympischer Fünfkampf
vorbehalten, der 1981 in den Sieben-
kampf mündete. Der Mehrkampf ist eine
der letzten Disziplinen, in denen in der
Leichtathletik noch keine Geschlechter-
gleichheit herrscht. Dennoch gelten die
Mehrkämpfer unter Kollegen als Königin-
nen und Könige der Leichtathleten. Das
ist ganz sicher kein Klischee. jkn

4 MEINUNG HF2 Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019, Nr. 230DEFGH


HONGKONG

Neue Wut


RECHTER TERROR

Stumpf


BREXIT

Johnsons Luftschloss


Der Premier hat so große
Hürden aufgebaut, dass die EU
kaum darüber springen kann

FRANKREICH

Schema: Vater-Mutter-Kind


Backstop à la Johnson sz-zeichnung: luismurschetz

WAHLEN


A Kurz is born


von detlef esslinger


AKTUELLES LEXIKON


Zehnkampf


PROFIL


Tawanda


Kanhema


Schöpfer eines
vollständigeren
Afrika-Bildes

Le Pen weiß die Debatte
um künstliche Befruchtung
zu instrumentalisieren

Schon wieder neigen
viele dazu,
einen jungen
Wahlsieger zu
verklären. Dazu
besteht bei Kurz
wirklich kein Anlass.
Doch eines hat der
Mann in Wien
begriffen: Die Leute
wollen einen Popstar
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