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ie Wiesn geht am Sonntag zu
Ende, Zeit also, die diesjährige
Mode zu betrachten. Kurz gesagt:
Es war alles so wie immer. Der Promi-
Event Almauftrieb auf der Wiesn zum
Beispiel verdient wirklich seinen Na-
men, denn er ist mindestens so be-
schwerlich wie das Original in den Ber-
gen: mit dem langen Weg ins Käferzelt
(High Heels, starke Steigung) und dem
dekorativen Aufwand (Blumengestecke
am Kopf) können sich die Gäste auf je-
den Fall mit der hart arbeitenden Alpen-
kuh messen. Im Trend liegt ja in der
normalen Welt, entweder gar kein
Dirndl mehr zu tragen oder es zumin-
dest mit einem hochgeschlossenen Blu-
senmodell zu kombinieren. Im Käferzelt
allerdings werden immer noch fröhlich
Busen hochgeschnürt, superhohe
Hacken angeschnallt, getaftet und ge-
rüscht, was das Zeug hält. Wunderlich
wird es dann, wenn die Promis aus dem
Norden kommen und sich als Alpenveil-
chen verkleiden, wie zum Beispiel das
schöne Model Franziska Knuppe in ei-
nem gerüschten Seidentaft-Albtraum
inklusive Röschen-Stickereien, zuckersü-
ßem Ausschnitt und Puffärmeln. Sie
wirkt darin wie Heidi, die von einem
Systemgastronomie-Millionär auf Berg-
tour aufgegabelt, geheiratet und in den
Herzogpark verschleppt wurde. Aber
irgendwie geht das schon wieder in Ord-
nung, denn das wäre eine typische
Münchner Geschichte.julia werner
A
uf das Äußere des Politikers
Philipp Amthor wurde zuletzt
ungewöhnlich oft und selten mora-
lisch einwandfrei abgezielt. Vielleicht
liegt das daran, dass sich viele Menschen
bei seinem Anblick an die eigene Schul-
zeit erinnert fühlen und dieser, äh, Flash-
back große Emotionen freisetzt, die
irgendwie abreagiert werden müssen.
Wie auch immer – im Gegensatz zu vie-
len seiner Kollegen verfügt Amthor we-
nigstens über ein markantes Gesicht,
das selbst im Gedränge des Oktoberfests
einen hohen Wiedererkennungswert
hat. Was nun sein Outfit angeht, so muss
man nachsichtig sein. Der Mann kommt
aus Vorpommern. Lederhose und Janker
dürften ihm ideologisch so fremd sein
wie einem Tölzer das Matrosenleibchen
und die Prinz-Heinrich-Mütze. Dafür
schlägt sich Amthor hier recht gut und
hat in der Logik der Landhausboutiquen
auch nichts wirklich falsch gemacht.
Vielleicht ist genau das das Problem, er
trägt das Kostüm streberhaft korrekt
und sieht deswegen doch wieder hoch-
gradig verkleidet aus. Vielleicht muss
man bemühten Touristen diese wichtigs-
te aller Trachtenregeln noch häufiger
einbimsen: Entspannt euch, es gibt hier
kein Richtigmachen im Falschen! Wie
bei jedem Anzug entsteht auch bei der
Tracht erst dann ein guter Effekt, wenn
sie dominant und mit kleinen Widersprü-
chen getragen wird. Und eben nicht das
Gwand stattdessen seinen Besitzer her-
umträgt.max scharnigg
Wiesn für sie:
Albtraum mit Taft
von silke wichert
U
nwahrscheinlich, dass Angela
Merkel den vergangenen Sonn-
tagvormittag damit verbracht
hat, das Video zur Balenciaga-
Show zu gucken. Naheliegen-
der wäre der „Presseclub“ oder das „Euro-
pastudio“ im ORF. Aber Letzteres gab es
im Grunde bei Balenciaga auch, nur knalli-
ger: In der Cité du Cinéma, wo der französi-
sche Regisseur Luc Besson vorzugsweise
seine Filme dreht, war ein Auditorium in
sattem Europablau als Laufsteg-Kulisse
gebaut worden. Eine einzige Bluebox aus
Teppich, Samtvorhängen und Stühlen, die
in einer Abwärtsspirale angeordnet wa-
ren.Also ungefähr in die Richtung, in die
sich die Welt gerade bewegt. Schauplatz für
eine Denkübung in Sachen „Power Dres-
sing“ und der etwas schiefen Machtverhält-
nisse in unserer Gesellschaft.
Angeblich soll der deutsch-georgische
Designer Demna Gvasalia auch über Ange-
la Merkel und ihre Uniform nachgedacht
haben. Die scheidende Bundeskanzlerin
als Inspiration für eine der angesagtesten
Marken der Stunde, die Ironie könnte
nicht größer sein, das Ergebnis nicht ver-
störender und zugleich betörender. Gecas-
tet wurden nicht nur Models, sondern Be-
rufstätige jeder Couleur, Lehrer, Galeris-
ten, Krankenschwestern sowie eine gewis-
se Nadja Auermann, „Model, Schauspiele-
rin, Mutter“. Sie tragen kastige Anzüge mit
Schulterpartien, wuchtig wie Schwebebal-
ken. Dazu Kreditkarten- oder Rolexohrrin-
ge, kantige Schuhe, Logos bis in die Rasta-
Spitzen. Auch die bessergestellten Frauen
in den typischen plissierten Seidenklei-
dern oder die disneyhaften Prinzessinnen
mit den riesigen Reifröcken zum Schluss
tragen wenig Make-up, dafür Prothesen
im Gesicht. Eine Parabel auf die Schön-
heitsideale unserer Zeit, das „Contouring“
der Wangenknochen, die aufgespritzen
Lippen. Früher hieß es, Geld verdirbt den
Charakter, heute versaut es einem mitun-
ter die Visage. Und während man all diese
Menschen wie ferngesteuert in die Ab-
wärtsspirale (zur Arbeit?) laufen sieht,
denkt man: Die Welt ist ein böser, kalter
Ort. Es fröstelt einen hier nicht nur, weil
die Temperatur extra runterkühlt wurde.
Gvasalia zeigt erneut eine der besten
Schauen der Pariser Modewoche, weil er
sich mit der Realität auseinandersetzt und
dabei trotzdem jede Menge guter, auch ir-
re gut vermarktbarer Produkte heraus-
kommen. Etwa der neue Sneaker Tyrex,
dessen Oberfläche so sehnig aussieht wie
Gunther von Hagens’ Körperwelten und
der in Kürze das Gelddruck-Modell Triple
S ablösen dürfte. Vor drei Wochen hat der
38-jährige Designer erklärt, dass er sich
von seinem eigenen Label Vetements ver-
abschiedet, weil er seine Mission dort für
beendet hält. Nicht auszudenken, was die
Kundschaft demnächst erst erleben wird,
wenn der Mann seine ganze Energie nur
noch in Balenciaga steckt.
Die Begeisterung über diese Show war
in Paris auch deshalb riesig, weil andere
große Modehäuser lieber in ihrer ästheti-
schen Komfortzone blieben. Sie spielten
mit den bekannten Codes, experimentier-
ten in homöopathischen Dosen. Das böse
Wort „kommerziell“ geisterte durch die
Reihen. Aber trotz allem Gemaule, dass es
in der Mode mehr denn je ums Verkaufen
geht: Zurzeit geht die Strategie voll auf.
Saint Laurent, Chanel und Givenchy ha-
ben alle kräftig zugelegt in den letzten Jah-
ren, Dior steuert unter der Designerin Ma-
ria Grazia Chiuri gerade auf drei Milliar-
den Euro Umsatz zu. Ein Plus von 26 Pro-
zent. Es überrascht deshalb nicht, dass Cha-
nel in der ersten Prêt-à-porter-Kollektion
unter der alleinigen Führung von Virginie
Viard vor allem, nun ja, Chanel bleibt. Al-
lein die Hotpants über Strumpfhosen und
kurzen Glockenröcke hätte es bei Karl La-
gerfeld nicht gegeben. Der schieferfarbene
Laufsteg ist diesmal dem Dach des Stamm-
hauses in der Rue Cambon nachempfun-
den, was weniger bombastisch daher-
kommt als, sagen wir, Eisberge, Super-
märkte oder Raketen, aber durchaus sym-
bolisch verstanden werden kann: Hier
steht man haushoch über den Dingen.
Eine kleine Sensation gibt es beim Fina-
le dann doch noch. Eine französische Ko-
mikerin mischt sich im Tweedkostüm un-
ter die Models – und manchen Gästen fällt
der Flitzer gar nicht groß auf.
Die Megabrands sind die Blockbuster
der Mode, die Branche nähert sich immer
mehr dem Showgeschäft an. Insofern hat
Gvasalia den Nagel auf den Kopf getroffen,
als er ins Filmstudio lud. Man produziert
große Spektakel, schiebt Stars über den
Teppich, schickt die Bilder um die Welt. Im
besten Fall haut das den Betrachter genau-
so um wie großes Kino. Aber auch die Er-
folgsmasche kommt immer häufiger aus
Hollywood: Wer die Formel erst mal gefun-
den hat, produziert ein Sequel nach dem
anderen. Um ein möglichst breites Publi-
kum an die Kasse zu locken, überfordert
man die Leute lieber nicht.
Anthony Vaccarello zeigt bei Saint Lau-
rent also weiterhin vor allem Schwarz, ro-
ckig, sexy, dazu ein bisschen mehr Bohème
als sonst mit goldenen Tüchern um den
Kopf, alles vor einer Kulisse von 400 Schein-
werfen und dem hübsch glitzernden Eiffel-
turm. Über Nacht steigen die Anfragen auf
der globalen Modesuchmaschine Lyst um
20 Prozent. Noch Klagen?
Genau so einen Boxoffice-Hit braucht
der frühere Saint-Laurent-Designer Hedi
Slimane bei seinem neuen „Studio“ Celi-
ne. Sein bourgeoiser Siebzigerjahre-Look,
der aktuell in den Läden hängt, scheint
sich besser zu verkaufen als die ersten Ent-
würfe, denn er zeigt für nächsten Sommer,
ta-daaa: fast das Gleiche. Bluse unterm
Blazer, Hosenrock, Stiefel, viel Jeans (aber
Bootcut), aufwendig bestickte Kleider und
ebenfalls goldene Kopftücher. Gefühlt 60
von 63 Models tragen eine Handtasche.
Der Look wird so präzise durchgehäm-
mert, dass am Ende jeder Anwesende die
Celine-Frau im Schlaf beschreiben könn-
te. Aus Sicht von Marketingstrategen
schon mal nicht der schlechteste Effekt.
Einen Pennyloafer für die Gedanken
von Catherine Deneuve! Die dienstälteste
Front-Row-Frau sitzt eisern jede Saison
bei Celine wie bei Saint Laurent. Lächelt
sie? Döst sie? Oder wird ihr wie so vielen an-
deren im Fachpublikum gerade klar, dass
sie ein Remake erlebt – perfekt gemacht,
aber mehr auch nicht? Auf Instagram lau-
ten die ersten Kommentare zu Celine Teil
III bereits: „OMG, I want it all!“
Natürlich gibt es auch in der Mode wei-
terhin die Arthouse-Abteilung, die sich an
die Grenzen des guten, gelernten Ge-
schmacks wagt: Comme des Garçons,
Noir, Marine Serre, Rick Owens. Und die
Autorenfilmer: Der nordirische Designer
Jonathan Anderson hat die Handwerker
des spanischen Ateliers von Loewe diese
Saison jede Menge Überstunden schieben
lassen. Er zeigt Kleider aus feinster Marge-
riten-Spitze, eingefasst in Leder, mit aris-
tokratisch angehauchten, ausgestellten
Panieren auf den Hüften. Praktischerwei-
se sind sie, wie auch die Krinolinen und
Schulterpolster bei Balenciaga, abnehm-
bar, also alltagstauglich. Reifröcke tau-
chen auch bei Thom Browne auf, bei Alex-
ander McQueen werden Korsagen oder de-
ren Streben in Blusen und Kleider eingear-
beitet. Vieles in Paris wirkt wie ein Aufbäu-
men gegen die formlose Sportswear der
letzten Jahre. Vielleicht geht es auch um
mehr Haltung in schwierigen Zeiten.
Wer beim Stichwort Sportswear nun an
Virgil Abloh und sein Label Off-White den-
ken muss: Der Multi-Wonderboy der letz-
ten Jahre legt auf Rat seiner Ärzte gerade
drei Monate Pause ein. Bei Ablohs Pensum
kaum verwunderlich: Kooperationen mit
Ikea, Rimowa und Nike, die Männerlinie
von Louis Vuitton, Kunstprojekte, alle woll-
ten Abloh. Deshalb läuft die Show diesmal
in Abwesenheit des Meisters. Sie heißt
„Meteor Shower“, Stiefel, Taschen und
Kleider werden von Löchern durchzogen.
Noch auffälliger sind die Lücken in den
Sitzreihen, wo vor einigen Saisons noch
mörderischer Andrang herrschte.
Die größte Menschenschlange findet
sich neben dem Showzelt von Valentino.
Na bitte, denkt man, keine Stadt lebt so für
die Mode wie Paris! Wie sich herausstellt,
haben sich die Leute jedoch aufgereiht,
um vom früheren Staatspräsidenten
Jacques Chirac Abschied zu nehmen; er ist
im nahe gelegenen Invalidendom aufge-
bahrt. Wären sie für Pierpaolo Piccioli an-
gestanden, es hätte einen aber auch nicht
gewundert. Der Italiener hat bei Valentino
seit Jahren einen unglaublichen Lauf. Dies-
mal trimmt er weiße Shirtdresses und Blu-
sen mit Volumen und Schnittführung auf
Couture-Niveau. Dann folgen lange Klei-
der in Neonfarben, ungefähr das Letzte,
was man zurückhaben wollte in der Mode.
Piccioli jedoch kann sogar Leuchtfarben
anmutig aussehen lassen. „Haute Neon“
tauchte dann auch bei Chanel auf, „das gro-
ße Weiße“ war in der gefeierten Miu-Miu-
Kollektion und beim großen Finale von
Louis Vuitton zu sehen.
Es gibt also durchaus Labels, auf die
sich Kritiker und Kunden einigen können,
die Tarantinos und Wes Andersons der Mo-
dewelt. Balenciaga, Alexander McQueen
oder Hermès, wo die Sattlerschürze des
Hauses diesmal Kleider und Tops inspi-
riert. Und natürlich Dries Van Noten.
Der Belgier liefert den besten Plot von
Paris. Auf der einen Seite entwirft er seit je-
her betont undramatisch, auf der anderen
Seite pinnte er diesmal immer wieder opu-
lente Entwürfe von Christian Lacroix aus
den Neunzigern an sein Moodboard.
Schließlich schrieb er dem Couturier eine
höfliche Mail: Ob der sich vorstellen kön-
ne, gemeinsam an einer Kollektion zu ar-
beiten? Lacroix, dessen Maison 2009
schließen musste und der seitdem vor al-
lem Theaterkostüme entwirft, stimmte
zu. In der bunkerhaften Opéra Bastille
wird das Publikum nun Zeuge, wie sich die
beiden gegensätzlichen Handschriften er-
gänzen, ineinanderlaufen, sich gegensei-
tig verstärken oder auch neutralisieren.
Röcken mit Rüschenkaskaden werden mit
nüchternen Tops, Zebra- und Leoprints
mit noch mehr Mustern oder mit Schleifen
kombiniert. Eine Kooperation, wie sie sein
soll: Zwei Künstler bündeln ihre Kräfte.
Am Ende stehen Van Noten und Lacroix
Hand in Hand auf der Bühne, sie strahlen,
während das ältere Modevolk den Tränen
nahe ist. Im Kino wie in der Mode ist auf ei-
nes Verlass: Gute Liebesgeschichten ha-
FOTOS: IMAGO, GETTY IMAGES ben immer Saison.
DEFGH Nr. 230, Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019 59
STIL
Wiesn für ihn:
voll korrekt
LADIES & GENTLEMEN
Wie das leuchtet: Im Digital
ArtMuseum in Tokio gelten
eigene Gesetze Kinderseiten
Hotpants über Strumpfhosen
und kurze Glockenröcke hätte es
bei Karl Lagerfeld nicht gegeben
Der Belgier Dries Van Noten
liefert den besten Plot von Paris,
mithilfe von Christian Lacroix
Das Programm für nächsten Sommer, live aus Paris: Dystopisches von Balenciaga (oben),
Himmlisches von Valentino (unten li.), ein weiteres Siebziger-Revival von Celine. Und nicht nur
bei Jonathan Anderson für Loewe kommt die Frage auf: Sind wir wieder reif für Reifröcke?
FOTOS: MONICA FREUD, VALENTINO, CELINE, LOEWE
Großes
Kino
Blockbuster, Sequels, Remakes – sind
wir hier etwa beim Film? Nein, in Paris!
Und Arthouse gibt es bei der
Modewoche zum Glück auch noch
Zum Anfassen