von jan kedves
L
arry wer? Die Frage stellen sich in
der Modewelt gerade viele, seit
nämlich beim renommierten
Rizzoli-Verlag in New York ein
opulentes Buch erschienen ist mit
dem Titel „LeGaspi: Larry LeGaspi, the 70s,
and the Future of Fashion“. Das Buch feiert
einen Designer, den die Modewelt völlig
aus dem Blick verloren hatte – und für den
das Wort „Designer“ eigentlich viel zu klein
ist: LeGaspi war Mode-Visionär!
Vergessene Mode-Visionäre sind ja ein
kostbares Gut. Besonders für die Ausken-
ner, die dann mit halb empörtem, halb ge-
heimnistuerischem Ton sagen: Wie konnte
das nur passieren, dass dieser fantastische
Designer von der Mode-Geschichtsschrei-
bung ignoriert wurde? So in etwa war es
2014, als das New Yorker Metropolitan
Museum eine große Ausstellung über den
amerikanischen Couturier Charles James
(1906 –1978) zeigte – der wurde einer
jüngeren Generation überhaupt dadurch
erst wieder zum Begriff. Frische Auf-
merksamkeit für einen in der Modewelt
einst etablierten Namen kann manchmal
sogar zur Reaktivierung der Marke führen
- wie bei der legendären Mode-Surrealistin
Elsa Schiaparelli (1890–1973) oder dem gro-
ßen Unisex-Wegbereiter Rudi Gernreich
(1922 –1985). Schiaparelli und Gernreich
gibt es heute wieder zu kaufen.
Wer aber war Larry LeGaspi? Ein Desi-
gner aus Lakewood, New Jersey, geboren
- Er schwelgte in extremen Space-For-
men und übermenschlichen Volumen, in
Silberglanz, Lack und Federn. Auf dem
Höhepunkt seines Erfolgs, Ende der Siebzi-
gerjahre, hatte er eine eigene Boutique auf
der Madison Avenue in Manhattan, sie hieß
Moonstone. Er kleidete Popstars ein: Grace
Jones, das R& B-Trio Labelle („Lady Mar-
malade“), das afrofuturistische Funk-Kol-
lektiv Parliament-Funkadelic („Mothers-
hip Connection“). Später trugen die Hardro-
cker vonKissseine Entwürfe. Wer diese
Zeit erlebt hat, wird sich erinnern: Das
waren diese silbern-schwarzen Spandex-
Leder-Fetisch-Outfits, die Gene Simmons
und seine züngelnden Kollegen wie stolze
Horror-Dragqueens aussehen ließen. Ent-
worfen hatte sie natürlich LeGaspi.
Der Designer sah in seinen Kostümarbei-
ten für Popstars – die „Disco-Rock-Leute“,
wie er sie nannte – allerdings in erster Linie
ganz pragmatisch: eine Einkommensquel-
le. Seine Visionen waren größer als Pop, er
wollte im Grunde die ganze Menschheit so
einkleiden. Die war aber noch nicht bereit
für Entwürfe, die der inzwischen legendäre
André Leon Talley 1979 imW Magazine
folgendermaßen beschrieb: als „Science-
Fiction-Fantasien“, die „eine verrückt ge-
wordene, animierte Version dessen dar-
stellen, was einst die Ägypter oder die
Römer trugen.“ Über den Umweg Pop woll-
te LeGaspi den Boden bereiten für seine
Ideen: „In Zukunft werden die Menschen
solarbeheizte und luftgekühlte Bodysuits
tragen. Unsere Kleidung wird uns dabei
helfen müssen, mit der Umwelt klarzukom-
men.“ Dieses Zitat von ihm ist – wie viele
andere – in dem neuen Buch über ihn zu
lesen. Aus heutiger Perspektive wirkt der
Satz, in Anbetracht des drohenden Klima-
kollaps, geradezu hellseherisch.
LeGaspi war kein Diplomdesigner, er hat-
te zwar einige Semester am angesehenen
Fashion Institute of Technology in New
York studiert, machte aber dort keinen
Abschluss. Er fing 1972, mit 22 Jahren, an
zu designen. 2001 starb er an den Folgen
von Aids. Vermutlich hat das Stigma um die
Krankheit mit dazu beigetragen, dass seit-
dem in der Modewelt kaum mehr jemand
über ihn gesprochen hat. Seine Frau und
Muse, Valerie LeGaspi, schien nach seinem
Tod auch erst einmal anderes zu tun zu
haben, als einen Ort für den Nachlass zu
suchen, das Werk in eine Stiftung zu über-
führen oder dergleichen.
Umso entschiedener hat Valerie LeGaspi
nun den Modedesigner Rick Owens, den
Herausgeber des Buchs, mit Archivmateri-
al unterstützt. Ja, genau der Rick Owens,
der in seiner Kollektion nun schon in der
zweiten Saison Plateau-Glam-Boots anbie-
tet, die stark vonKissinspiriert sind – bezie-
hungsweise eben von Larry LeGaspi. Die
Schuhe haben hinten einen transparenten
Plexiglasabsatz und vorne so etwas wie
einen Kühlergrill für die Zehen. Owens
outet sich als totaler LeGaspi-Fanboy – als
Herausgeber des Buchs, aber eben auch in
seinen eigenen Kollektionen.
Ach, würde doch jeder Designer, der sich
von einem vergessenen Vorgänger inspi-
rieren lässt, zu dessen Ehre gleich ein Buch
herausgeben. Dann hätten Blogs wie „Diet
Prada“, die sich tagein, tagaus mit der
Enttarnung des angeblichen oder tatsächli-
chen Ideenklaus in der Mode beschäftigen,
gleich weniger zu tun. Oder sie müssten
zumindest nicht mehr so einen anprangern-
den Ton anschlagen. Sich als Designer zu
bedienen und darüber zu schweigen: un-
cool. Sich zu bedienen und in Büchern laut
darüber zu schwärmen: viel besser!
Tatsächlich hat auch heute die Mode von
Larry LeGaspi noch viel zu sagen. Zum
Beispiel verwendete er besonders gerne
gepolsterte, versteifte Stoffe – aufwendig
in Streifen abgenäht, unterfüttert, skulp-
tural geformt. „Quilting“ und „Tubing“
heißen diese Techniken, die auf eine lange
Tradition zurückblicken. Interessanter-
weise gibt es das gerade wieder in der Mode
- nicht nur bei Rick Owens. Auch in den
Kollektionen des Londoner Menswear-De-
signers Craig Green und in dessen Koopera-
tionen mit dem Luxus-Daunenjacken-La-
bel Moncler. Steife, voluminöse, polsterhaf-
te Outfits, die aussehen, als könnte man mit
ihnen Fallschirm springen oder ins Weltall
düsen. Manchmal haben sie auch etwas von
Zwangsjacken, oder von schusssicheren
Westen. Rap-Stars wie Pusha T oder Ken-
drick Lamar tragen seit einer Weile bevor-
zugt Craig Green auf der Bühne.
Das Faszinierende an solchen Kleidern
ist nicht zuletzt die absurd aufwendige
Handarbeit, die in ihnen steckt. Und: Ihre
Formensprache hat mit dem klassischen
Herrenanzug nichts mehr zu tun. Der ist in
der aktuellen Mode immer noch sehr domi-
nant, manche würden sagen: Er ist ihr
ewiger, langweiliger Bezugspunkt. Larry
LeGaspi konnte den Herrenanzug – insbe-
sondere den klassischen Dreiteiler – nicht
ausstehen. Spätestens im Jahr 1984 werde
er ausgestorben und durch Stretch-Body-
suits, Overalls und Raumanzüge ersetzt
sein, erklärte LeGaspi 1980 in einem Inter-
view mit demUS Magazine. Nun, das war
sehr optimistisch. Oder eben: futuristisch.
Jetzt weiß die Modewelt also wieder, wer
dieser Larry LeGaspi war und wie er sich die
Zukunft vorstellte. Ob das bedeutet, dass
sein Label auch bald reanimiert wird? Bis-
lang scheint davon noch nicht die Rede zu
sein. Aber in der Mode weiß man ja nie.
Ziemliche Ernüchterung, die fühlt Jana Wag-
ner, als sie vor zwölf Jahren das erste Mal
mit ihrer Mutter in ein Sanitätshaus geht,
um nach deren Brustkrebs-OP einen geeig-
neten BH zu kaufen. Ein weiterer Schreck
nach vielen, der Diagnose, der OP. „Vor zwölf
Jahren gab es da Modell A in weiß, und wenn
man Glück hatte, Modell B in schwarz“, sagt
sie heute. Ihrer Mutter habe das damals zu
schaffen gemacht. „Plötzlich hat man nicht
mehr das Gefühl, die Wahl zu haben. Man
kann nicht mehr wie andere Frauen in jede
Boutique oder jedes Kaufhaus gehen. Der
Wunsch, schöne Wäsche zu tragen, hört
doch mit einer OP nicht auf.“
Weil Jana Wagner das nicht loslässt, eröff-
net sie 2014 „Le Néné“ in ihrer Heimat Stutt-
gart, ein Wäsche- und Bademodengeschäft
speziell für Frauen nach einer Brustkrebs-
erkrankung. „Ein Sanitätshaus getarnt als
französische Boutique“, so beschreibt sie es.
Heute kommen Frauen von überall zu der
36-Jährigen, sie berät sie, passt Modelle indi-
viduell an, sucht sich ihre Kollektionen auf
der ganzen Welt zusammen. „Die Kundin-
nen sehnen sich danach, auf der Suche nach
einem BH nicht erst an Rollatoren und ande-
ren Produkten vorbeilaufen zu müssen, die
Krankheit! schreien.“
Jährlich erkranken rund 69 000 Frauen
in Deutschland an Brustkrebs, damit ist er
bei Frauen mit Abstand die häufigste Krebs-
art. Bei rund 30 Prozent der Erkrankten
wird eine Mastektomie durchgeführt, die
Entfernung einer oder beider Brüste. Bei
einer brusterhaltenden Therapie hingegen
wird versucht, so viel Brustgewebe wie
möglich zu erhalten, aber auch hier
brauchen Frauen im Nachhinein spezielle
Wäsche.
Nach einer Operation muss ein BH
besondere Anforderungen erfüllen: Nähte
dürfen nicht auf den Narben reiben, der
BH soll den Lymphfluss begünstigen, weil
bei der Operation üblicherweise die
Lymphknoten in der Brust entfernt wer-
den. Prothesen-BHs sollen den Einlagen
Halt und den Brüsten eine möglichst natür-
liche Form geben. Die Krankenkassen
bezuschussen den Kauf: zwei BHs im Jahr,
alle zwei Jahre neue Prothesen, alle zwei
bis drei Jahre Bademode. Für den Kauf
benötigt man ein Rezept, und die lassen
sich eben nur in Sanitätshäusern einlösen,
nicht in gängigen Dessousabteilungen.
Deshalb bleibt den Frauen oft nichts
anderes übrig, als den BH-Kauf in ein Sani-
tätshaus zu verlegen. „Um eine fehlende
Brust optisch auszugleichen, gibt es ver-
schiedene Hilfsmittel. Einige Sanitätshäu-
ser bieten Epithesen und spezielle Büsten-
halter an“, schreibt etwa der Deutsche
Krebsinformationsdienst auf seiner Home-
page. Nach schöner Unterwäsche und
Weiblichkeit klingt das Wort Hilfsmittel
nicht gerade. Dennoch: Seit ihre Mutter an
Brustkrebs erkrankte, habe sich in der
Branche viel getan, sagt Jana Wagner. Die
meisten Sanitätshäuser seien heute besser
ausgestattet. Marken wie Anita Care oder
Amoena zählen auf dem Gebiet zu den
Marktführern. Die Modedesignerin Stella
McCartney brachte 2018 einen spitzen-
besetzten Mastektomie-BH heraus. Die
Marken bemühen sich um Modelle, die
statt fleischfarbener Funktionalität farbig
sind, mit Mustern oder Stickereien. Eine
schöne Verpackung für die Prothesen, den
Umständen entsprechend.
Doch den Bedürfnissen aller an Brust-
krebs erkrankter Frauen gerecht zu wer-
den, ist schwierig. Rebecca Marold wurden
2015 beide Brüste entfernt. Sie entschied
sich bewusst dazu, ohne Prothesen durchs
Leben zu gehen. Prothesen und die entspre-
chende Wäsche bekam sie im Kranken-
haus trotzdem. Dann kam der erste
Urlaub, die Aussicht, im Bikini am Pool zu
liegen, und ein Koffer, der mit den beiden
Schachteln für die Prothesen schon fast
voll war. „Die Dinger mussten zu Hause
bleiben“, erzählt Marold. In den nächsten
Urlaub nahm sie dann einen schwarzen
Sportbadeanzug mit, der die Narben ver-
decken sollte – und fürchterlich scheuerte.
Noch im selben Urlaub wird sie auf Heike
Fangrat aufmerksam, auch sie hat ampu-
tierte Brüste, auch sie stand vor der Heraus-
forderung, die passende Bedeckung für
den Strand zu finden. Und kreierte kurzer-
hand einen eigenen Bikini, speziell für
Frauen, die sich gegen Prothesen entschei-
den. „Für die großen Hersteller ist unsere
Zielgruppe uninteressant“, sagt Fangrat.
Dass Frauen nach einer OP weder Implan-
tate noch Prothesen wollen, werde nicht
wirklich wahrgenommen.
Rebecca Marold ist heute eines von fünf
Models, die die Bademode für brustlose
Frauen von Heike Fangrats Label Eikii prä-
sentieren. Der Stoff verdeckt die Narben,
Volants umspielen den Brustbereich. „Es
ist ein bisschen Illusion, ohne auf Pads
zurückzugreifen“, erklärt Fangrat. Flach,
rekonstruiert, mit Prothesen, wenn es um
Unterwäsche und Bademode geht, „soll
sich niemand zu irgendwas genötigt füh-
len, aber gleichzeitig alle Möglichkeiten
haben“, sagt die Designerin. Mittlerweile
hängt auch ein Eikii-Bikini in zwei Farben,
blau und rot, im Stuttgarter Laden von
Jana Wagner. laura krzikalla
62 STIL Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019, Nr. 230DEFGH
Bitte nicht fleischfarben
Schöne Unterwäsche und Bademode zu finden, ist für Frauen nach einer Brustkrebsoperation schwierig. Doch langsam wird die Auswahl größer
Der klassische Herrenanzug
sei zum Aussterben verdammt,
prognostizierte er kühn
Nach schöner Unterwäsche
und Weiblichkeit klingt das
Wort Hilfsmittel nicht gerade
Seine Visionen waren größer
als der Pop, er wollte die ganze
Menschheit einkleiden
Ein bisschen Illusion ohne Prothese: der Bikini des Labels Eikii. FOTO: EIKII
Seine Designs sahen
aus wiefuturistische
Skulpturen, aber sie
waren handwerklich
auch perfekt gemacht,
etwa mit aufwendigen
Polsterungen. Unten
Larry LeGaspi in
einem seiner berühm-
ten Space-Anzüge.
FOTOS: PHOTOGRAPHER UN-
KNOWN / LEGASPIBY RICK OWENS,
RIZZOLI NEW YORK, 2019
Zurück in die Zukunft
Der Modedesigner Larry LeGaspi galt als schrilles Ausnahmetalent, in seinen Outfits glänzten „Kiss“ oder Grace Jones.
18 Jahre nach seinem Tod wird er gerade wiederentdeckt – und für seine visionären Designs gefeiert