Die Zigarette. Er muss an sie denken. Im-
mer wieder. Der Mann hat sie ihm angebo-
ten. Damals. Er hat sie genommen, und zu-
sammen haben sie geraucht, wie man mit
einem Freund eine raucht, aber warum
mit diesem Mann, er ist doch nicht sein
Freund, „wie konnte ich nur?“. Der Mann
hat ihn verhört, geschlagen, gequält. Und
noch etwas treibt ihn um, sagt er. Dass er
nicht geblieben ist und alles ausgehalten
hat. So wie die anderen seiner Gemein-
schaft. Er spürt Schuld, weil er die anderen
zurückgelassen hat, Familie, Freunde.
Jawad Hosseini ist Opfer von Folter. Er
spricht zögernd, dann kann er sich kaum
bremsen, er lacht, im nächsten Moment
kommen Tränen. Er ist traumatisiert. Am
liebsten, sagt er, würde er seinen Kopf auf-
schneiden und alle Würmer rausholen.
Hosseini lebt in einem früheren Gasthaus
im Rheinland. Er darf ein Viererzimmer al-
leine nutzen, der Teppichboden ist alt und
fleckig, bald wird das Haus abgerissen,
dann muss er mal wieder umziehen. In
Wahrheit heißt er anders, das Pseudonym
soll ihn und seine Angehörigen schützen.
Hosseini, 33 Jahre alt, ist Iraner, er war
Muslim und ist zur Glaubensgemeinschaft
der Bahai konvertiert. Die Islamische Repu-
blik verfolgt diese religiöse Minderheit,
das dokumentieren Menschenrechtsorga-
nisationen seit Jahren. Viele Bahai sitzen
im Gefängnis, allein wegen ihres Glau-
bens, Iran hält ihre Religion für Ketzerei.
Von Hosseini verlangt der Geheimdienst,
dass er seinem Glauben abschwöre. Das
aber würde er nie tun, sagt er. Aus Angst
um sein Leben flieht er im September 2018
mithilfe eines Schleppers über Kiew, Mai-
land, Amsterdam nach Bremen. Dort hat
er die Adresse eines Bahai, ein kleiner An-
ker in Europa.
Mit am Tisch sitzen zwei Frauen, die
übersetzen und Hosseini im Alltag helfen.
Eine legt die Kopie eines Briefes auf den
Tisch. Der ehemalige iranische Präsident
Ahmadinedschad hat einen der besten Stu-
denten des Landes belobigt – Jawad Hos-
seini. Da wusste der Staat noch nicht, dass
dieser intelligente Mann Bahai ist.
Wenn er seine Tabletten nehme, wenn
er regelmäßig seine Therapeutin sehe, die
Persisch spricht wie er, gehe es ihm ganz
gut, sagt Hosseini. Über seine Zeit in
Deutschland sagt er aber auch: „Ich wollte,
dass alle denken, es geht mir gut.“ Ein
Stockbett steht an der Wand seines Zim-
mers, seine Matratze liegt unten. Wenn ihn
die Würmer im Kopf lähmen, liegt er dort
und starrt nach oben. Er fühlt sich noch im-
mer nicht sicher. Das Asylbundesamt und
die Ausländerbehörde wollten ihn abschie-
ben, nach Italien. Dort wäre er wieder ohne
Halt gewesen, wäre allein seinen Gedan-
ken ausgeliefert. An die Männer, die ihn
ins Auto zerrten, an den Wald, die Dunkel-
heit, die Schläge, die nasse Zelle, den Beam-
ten, der die Hände um seinen Hals legt und
zudrückt: Wir hängen dich, 20 Minuten
dauert das, dann bist du tot.
Jawad Hosseini ist Deutschland dank-
bar. Er ist ein Beispiel dafür, wie Deutsch-
land Verfolgten Schutz und Hilfe gibt. Aber
auch dafür, wie schwer sich die Behörden
tun, diese Hilfe rasch zu gewähren.
„Ihre Rückführung nach Italien im Rah-
men der Dublin-III-Verordnung“: Das
steht im Betreff des Briefes des Ausländer-
amts an Hosseini. „Ihr Asylantrag ist unzu-
lässig. Sie werden daher am 29.05.
nach Italien zurückgeführt. Bitte halten
Sie sich am 29.05.2019 um 03:30 Uhr vor
Ihrer Unterkunft bereit. Sie werden vom
Außendienst abgeholt und zum Flughafen
verbracht.“ Dies liest ein Mann, der in gro-
ßer Angst lebt. Dem ein anderer Flüchtling
erzählt hat, dass Deutschland Geflüchtete
mürbemache und dass Italien mit Iran ko-
operiere. Das stimmt nicht, aber der Ver-
zweifelte kann kaum unterscheiden zwi-
schen Lüge, Gerücht, Wahrheit.
Die Angst überwältigt Jawad Hosseini.
Er schluckt Tabletten, sehr viele. Er will
schlafen, aber er bringt sich in Lebens-
gefahr. Er kommt in die Psychiatrie. Nicht
die Einsicht der Behörden, sondern sein
Suizidversuch bewahrt ihn vor der Abschie-
bung in ein Land, wo er wieder alleine wä-
re. Soziale Kontakte aber sind lebenswich-
tig, gerade für Traumatisierte; Hosseini ist
im Rheinland an die Bahai-Gemeinde an-
gebunden. Weil die Frist verstreicht, inner-
halb der Deutschland ihn hätte abschieben
müssen, übernimmt das Bundesamt das
Asylverfahren. Ehe der Staat Schutz ge-
währt, hat er alles noch schlimmer ge-
macht, da ist Hosseini kein Einzelfall. Die
europäischen Asylregeln schreiben dieses
Vorgehen vor, sagen die Behörden.
Dies kritisiert der Frankfurter Asylan-
walt Reinhard Marx. Er vertritt den Iraner
und argumentiert ebenfalls mit EU-Vorga-
ben: Einen gefolterten, traumatisierten
und suizidalen Menschen dürfe man nicht
abschieben, egal wohin. Und dass Hosseini
schwer krank sei, sei von Anfang an klar ge-
wesen. Er reicht Klage ein, beschwert sich
beim Asylbundesamt. Die Klage scheitert,
und das Bamf bescheinigt sich selbst, „sei-
ne Pflichten gegenüber dem Antragsteller
hinreichend erfüllt“ zu haben.
In Hosseinis Asylverfahren ist gesche-
hen, was Experten immer wieder kritisie-
ren: Angehört wurde er in der Bamf-Außen-
stelle Bonn, entschieden wurde in Bo-
chum. Der Entscheider dort hat Hosseini
nie gesehen, hat seine Verzweiflung nicht
gespürt, die ihn bei der Anhörung über-
kommen haben muss. Im Protokoll ist nur
eine zehnminütige Pause notiert, aber
nicht, dass er fast kollabiert wäre. Festge-
halten aber ist, was er über seine Folter be-
richtet hat. Wie sie ihm im Auto den Kopf
nach unten drücken, wie er sich später
nackt ausziehen muss, wie sie ihn zwin-
gen, seinen Urin zu trinken. Von den bei-
den ausgeschlagenen Backenzähnen fin-
det sich nichts im Protokoll. Hosseini sagt,
er sei sich nicht sicher gewesen, was er
Deutschland anvertrauen dürfe.
Das Bamf rechtfertigt sein Abschiebebe-
streben auch damit, dass die ärztlichen At-
teste nicht den Anforderungen genügt hät-
ten und eine Suizidgefahr erst kurz vor
dem Abschiebetermin mitgeteilt worden
sei. Wie soll ein schwer Traumatisierter in-
nerhalb weniger Wochen an ein detaillier-
tes fachärztliches Gutachten kommen? Da-
für sind ausführliche Gespräche nötig, es
gibt aber viel zu wenig Ärzte, die solche Be-
gutachtungen übernehmen. Zum Jahres-
wechsel 2018/19 ging es Hosseini schon
einmal so schlecht, dass er in der Psychia-
trie war, zwei Monate lang. In dieser Zeit
verschickte das Bamf seinen Negativ-Be-
scheid: „Der Antrag wird als unzulässig ab-
gelehnt.“
Das Fenster steht offen, es liegt ein Rau-
schen in der Luft, vor dem alten Gasthaus
verläuft eine laute Landstraße. „Ich ent-
schuldige mich, dass ich in der schwieri-
gen Lage nicht bei euch bin“: Das ist Jawad
Hosseinis Botschaft an die Bahai in Iran. Er
selbst lebt weiter in Unsicherheit. Vier Mo-
nate sind es jetzt, seit sich Deutschland für
seinen Schutzantrag zuständig erklärt hat,
noch ist nichts entschieden. Hosseini war-
tet weiter. Was steht im nächsten Brief?
Der Abschiebung nach Italien ist er entgan-
gen, aber darf er dauerhaft in Deutschland
bleiben? Oder muss er zurück nach Iran,
zu seinen Peinigern? bernd kastner
interview: ferdos forudastan
und bernd kastner
F
ast jeder dritte Flüchtling, der es
bis Deutschland schafft, hat Ent-
setzliches erlebt und ist darüber
psychisch krank geworden. Viele
leiden unter Depressionen und
benötigen Therapie. Um Traumatisierte
muss sich der Staat besonders kümmern.
Tut er das auch? Jürgen Soyer, Chef des
Münchner Behandlungszentrums für
Flüchtlinge und Folteropfer „Refugio“, dis-
kutiert mit Bayerns Innenminister Joa-
chim Herrmann von der CSU, dessen Partei
innerhalb der Bundesregierung über Jahre
hinweg immer wieder auf schärfere Asylre-
geln gedrungen hat.
SZ: Herr Herrmann, waren Sie eigentlich
schon mal bei Refugio?
Joachim Herrmann:Nein. Refugio war
zwar schon mal bei mir, aber ich war noch
nicht dort.
Hatten Sie kein Interesse, das Zentrum
kennenzulernen?
Herrmann:Doch, ich war bisher aber noch
nicht eingeladen. Gerne werde ich Refugio
aber mal besuchen.
Jürgen Soyer:Sie sind hiermit herzlich
eingeladen.
Warum erst jetzt, Herr Soyer?
Soyer:Sie haben uns auf eine gute Idee ge-
bracht.
Zu Refugio kommen Geflüchtete, die
Schreckliches hinter sich haben: Krieg,
Folter, Vergewaltigung. Wie erleben Sie
die Aufnahme und Begleitung dieser Men-
schen durch staatliche Stellen?
Soyer:Die einschlägige EU-Richtlinie ver-
pflichtet aufnehmende Staaten, ein beson-
deres Augenmerk auf diese Schutzsuchen-
den zu legen. Das passiert aber leider
nicht.
Herrmann:Anders als ein gebrochener
Fuß ist ein Trauma nicht immer auf den
ersten Blick erkennbar. Das jeweilige
Schicksal rechtlich zu würdigen, liegt in
der Verantwortung des Bundes, des Bun-
desamts für Migration und Flüchtlinge.
Soyer: Die Aufnahmerichtlinie be-
schreibt die Aufnahme, und dafür ist das
Land zuständig.
Herrmann: Das stimmt. Aber viele
Flüchtlinge äußern sich nicht gleich im ers-
ten Gespräch mit einem Vertreter ihrer Un-
terkunft zu ihrer Situation. Trotzdem be-
schäftige ich mich gerne mit der Frage, wie
wir schon bei der Erstaufnahme noch
schneller als bisher feststellen können, ob
jemand traumatisiert ist.
Wie könnte so eine Verbesserung denn
konkret aussehen?
Soyer:In den Unterkünften fehlen psycho-
logisch geschulte Mitarbeiter und Fach-
kräfte, die erkennen, wenn jemand Hilfe
braucht, und dafür sorgen können, dass
die Menschen die auch bekommen. Außer-
dem brauchen Traumatisierte ein Gefühl
der Sicherheit. Dazu gehört ein abschließ-
barer Raum, die Möglichkeit zu arbeiten
oder etwas Sinnvolles zu tun, damit die
schlimmen Erinnerungen nicht das gesam-
te Denken okkupieren.
Ziemlich viel, was da nicht funktioniert.
Herrmann:Ich sehe das anders. In allen so-
genannten Anker-Einrichtungen haben
wir Ärztezentren. Manche Flüchtlinge sind
vermutlich froh, wenn sie nach der Flucht
erst mal durchatmen können. Da möchte
nicht jeder sofort mit einer Arbeit loslegen.
Das eigentliche Problem besteht übrigens
bei denen, die nach sorgfältiger Prüfung
kein Bleiberecht zugesprochen bekom-
men. Sie stehen unter einer besonderen
psychischen Belastung. Die kann ich ihnen
aber leider nicht nehmen.
Sie als Landesinnenminister sind zustän-
dig für die medizinische Versorgung, also
auch für die Flüchtlinge, die das Bamf ab-
gelehnt hat und die – etwa weil sie gegen
die Entscheidung klagen – noch eine gan-
ze Weile in den „Anker-Zentren“ bleiben.
Herrmann:Wir kümmern uns auch um
diese Menschen. Unser Land verlassen
müssen sie dennoch. Es muss einen Unter-
schied geben zwischen Bleibeberechtigten
und solchen, die es nicht sind. Unabhängig
davon bauen wir die Angebote für Trauma-
tisierte aus, und schon jetzt ist vieles bes-
ser als noch vor einiger Zeit.
Soyer:Deutschland hat viel für Geflüch-
tete getan. Aber die Lage der besonders
schutzbedürftigen Traumatisierten ist
nicht besser, sondern schlechter gewor-
den. In den „Anker-Zentren“ finden Anhö-
rungen während der ersten fünf Tage nach
der Ankunft statt. Dabei brauchen Men-
schen eine ganze Weile, bevor sie über
schreckliche Erlebnisse sprechen können.
Herrmann: Eine ganze Weile heißt
manchmal Jahre. Aber so lange kann man
doch nicht in jedem Fall warten, bis über ei-
nen Asylantrag entschieden wird.
Soyer:Aber man muss ihnen wenigs-
tens ein paar Wochen lang Zeit geben und
ihnen erlauben, Informationen über eine
Traumatisierung nachzureichen. Hinzu
kommt: Seit einiger Zeit genügt es nicht
mehr, wenn psychologische Psychothera-
peuten den Betroffenen attestieren, dass
sie traumatisiert oder suizidgefährdet
sind. Anerkannt werden nach einem neu-
en Gesetz, das bundesweit gilt, nur noch
Gutachten von Psychiatern, also Ärzten.
Die sind aber so überlastet, dass viele
Geflüchtete gar nicht die Möglichkeit ha-
ben, sich an sie zu wenden. Traumatisierte
haben dann keine Chance, ihre Erkran-
kung im Asylverfahren geltend zu machen.
Ist es nicht nachvollziehbar, dass der Staat
genau hinschaut? Nicht jeder Flüchtling,
der eine Traumatisierung geltend macht,
ist wirklich erkrankt.
Soyer:Sicher muss man sich jeden Fall
sorgfältig ansehen. Aber warum sollen das
nur noch Psychiater können? Psychologen
mit einer jahrelangen therapeutischen Aus-
bildung erkennen, ob jemand wirklich er-
krankt ist. Ihre Stellungnahmen werden
nicht mehr anerkannt. Das ist ein riesiges
Problem, weil Flüchtlinge ihre Traumati-
sierung nicht mehr nachweisen können.
Herrmann:Mit Blick auf die weitrei-
chenden Folgen, die ein solches Gutachten
für den Ausgang eines Asylverfahrens ha-
ben kann, hat der Bund einen strengen
Maßstab angelegt. Ich glaube, dass das Sys-
tem der Begutachtungen bei den Bamf-Ver-
fahren in der Regel funktioniert, kann aber
nicht ausschließen, dass es auch Fälle von
Traumatisierung gibt, die nicht erkannt
werden.
Wenn Traumatisierten die Abschiebung
nach Italien, Griechenland oder in ein an-
deres europäisches Land bevorsteht, argu-
mentieren die Behörden, dass sie auch
dort medizinische Hilfe bekommen: Ist da
nicht was dran?
Soyer:Manchmal ja. Wir attestieren nicht
jedem, dass er wegen seiner Traumatisie-
rung hierbleiben muss, sondern orientie-
ren uns an diesen Fragen: Wie schlecht
geht es der Person? Hat sie in Deutschland
ein Netzwerk und hat sie sich stabilisiert?
Würde sich ihre Situation massiv ver-
schlechtern, wenn man sie rausreißt? Vor
Kurzem haben wir mit einigen Stellen in
Italien telefoniert und gesagt, unser sehr
kranker Klient muss, wenn er dorthin abge-
schoben wird, sofort psychiatrisch betreut
werden. Die Antwort: Der soll erst mal kom-
men, dann schauen wir weiter. Das ist zu
wenig. So ein Mensch braucht sofort Hilfe,
sonst droht das Schlimmste.
Müsste man in solchen Fällen nicht unbü-
rokratisch handeln?
Herrmann:Wir müssen uns jeden Einzel-
fall anschauen. Eines fällt aber schon auf,
Herr Soyer: Sie und andere kritisieren das
Versorgungsniveau in Deutschland als un-
zureichend. Geht es andererseits um Dub-
lin-Rückführungen in andere EU-Länder,
sagen Sie, unsere europäischen Nachbarn
leisten weniger Hilfe als wir. Wenn wir ehr-
lich sind: Wir leisten für Flüchtlinge mehr
als die allermeisten EU-Länder. Das muss
man nicht immer nur schlechtreden.
Der Fall von eben ist doch recht plastisch:
Wenn es keinen Anhaltspunkt gibt, dass
Italien diesen Menschen adäquat betreut,
dann kann man nicht sagen: Ist ein EU-
Land, damit ist eine Abschiebung okay.
Herrmann:Einerseits ja, deshalb prüft
das Bamf jeden Einzelfall genau. Und so
wird auch mal entschieden, dass jemand
aus gesundheitlichen Gründen bleiben
darf, obwohl eigentlich ein anderes EU-
Land zuständig ist. Wenn man das aber im-
mer machen würde, kämen alle Flüchtlin-
ge nach Deutschland oder dürften bleiben,
weil das Niveau der Versorgung fast über-
all in der EU niedriger ist. Das kann nicht
Sinn eines gemeinsamen Europas sein,
und das kann ich der Mehrheit der deut-
schen Bevölkerung auch nicht vermitteln.
Herr Soyer, wird tatsächlich jeder Einzel-
fall geprüft?
Soyer:Eine Person, die keine Einrichtung
wie Refugio an der Seite hat, hat Pech. Ich
wünsche mir eine Vorgabe an die Sachbear-
beiter, dass sie bei Hinweisen auf eine Trau-
matisierung der Sache nachgehen müs-
sen. Dass die Behörden eine Bescheini-
gung für eine Traumatisierung verlangen,
ist ja völlig richtig. Dafür müssen die
Flüchtlinge aber Zeit kriegen und Zugang
zu Fachärzten haben.
Herrmann:Der Rechtsstaat hat klare
Regeln: Wenn Abschiebehindernisse, etwa
eine Krankheit, bestehen, wird der Betrof-
fene nicht gegen seinen Willen ins Ausland
gebracht.
Soyer:Im ersten Halbjahr 2019 wurden
20 Abschiebungen wegen Suizidversu-
chen abgebrochen. Wir haben einen Mann
in Therapie, der nach Afghanistan geflo-
gen werden sollte. Den hat das Bundesver-
fassungsgericht gerade noch von der Gang-
way geholt – er ist trotzdem zerbrochen. Er
konnte vorher arbeiten, hatte sich stabili-
siert, jetzt ist er seit drei Jahren arbeitsun-
fähig. Solche Fälle dürfen nicht passieren.
Herrmann:Der Rechtsstaat darf keine
falschen Entscheidungen treffen. Aber
man kann nie ganz ausschließen, dass bei
Tausenden von Fällen auch mal ein Fehler
passiert. In den von Ihnen genannten Fäl-
len kam es letztendlich nicht zur Ausreise.
Soyer:Ein Wort zu den Sammelflügen:
Viele Afghanen, die hierbleiben dürfen, ent-
wickeln wegen der Nachrichten über diese
Abschiebungen wieder massiv Symptome
von Traumatisierung. Die Abschiebungen
führen ihnen vor Augen, dass es auch für
sie irgendwann zurück in dieses Land ge-
hen kann.
Selbst wenn sie einen sicheren Bleibesta-
tus haben?
Soyer:Der Schutzstatus ist während der
ersten Jahre immer befristet. Und: Trauma-
tisierung lässt sich nicht steuern. Ängste
kommen unwillkürlich hoch. Es wurden
bisher einige Hundert Afghanen abgescho-
ben – alte Wunden aufgerissen hat das al-
lerdings bei Zehntausenden. Ist es das
wert? Wir kriegen Afghanen zurück in die
Therapie, die wieder bei null anfangen
müssen.
Herrmann:Wir haben bei rechtsstaatli-
chen Grundsätzen zu bleiben. Das Bundes-
amt und die Verwaltungsgerichte entschei-
den, ob jemand Schutz bekommt. Da kann
ich doch nicht sagen, nur damit die, die
hierbleiben dürfen, keine unbegründete
Angst haben, schiebe ich die anderen nicht
ab. Und vergessen Sie bitte nicht: Ein gro-
ßer Teil der abgeschobenen Afghanen sind
als Straftäter aufgefallen. Hier geht es
auch um Sicherheit.
Soyer:Ich sage nicht, dass man generell
nicht abschieben darf. Aber muss man
Menschen ins Kriegsland Afghanistan ab-
schieben und dabei Zehntausende gut Inte-
grierte grundlegend verunsichern?
Herrmann:Bundestag und Bundesre-
gierung sagen klar, Abschiebungen nach
Afghanistan sind möglich. Wir gehen da-
bei mit Augenmaß vor, jeder Fall wird ge-
nauestens geprüft.
Etwa 30 Prozent der Flüchtlinge, die in
Deutschland leben, sind traumatisiert,
durch Erfahrungen im Heimatland
oder auf der Flucht, schätzen Exper-
ten. Knapp eine halbe Million Geflüch-
tete entwickeln posttraumatische Be-
lastungsstörungen oder Depressio-
nen, so die Bundesweite Arbeitsge-
meinschaft der Psychosozialen Zen-
tren für Flüchtlinge und Folteropfer
mit Verweis auf wissenschaftliche Stu-
dien. Wenn Traumatisierte in ihrem so-
zialen, kulturellen oder religiösen Um-
feld unterstützt werden, stabilisieren
sie sich oft auch ohne Therapie. Die
41 Zentren in Deutschland, darunter
Refugio in München, haben 2017 rund
21 500 Flüchtlinge betreut, knapp
8000 im Rahmen einer Psychothera-
pie. Die Zentren finanzieren sich vor al-
lem über Spenden und Projekte. BEKA
„In den Unterkünften fehlen
psychologischgeschulte
Mitarbeiter, die erkennen,
wenn jemand Hilfe braucht.“
Würmer im Kopf
Jawad Hosseini wurde in Iran gefoltert, weil er einer religiösen Minderheit angehört. Darf er in Deutschland bleiben? Auch ein Jahr nach seiner Flucht fehlt ihm das Wichtigste – Sicherheit
„Wir gehen
mit Augenmaß vor,
jeder Fall
wird genauestens geprüft.“
Verfolgt von den Erinnerungen
Muss Deutschland mehr tun für traumatisierte Flüchtlinge? Schaden Abschiebungen ausgerechnet denen,
die bleiben dürfen? Ein Streitgespräch über den nötigen Schutz und rechtsstaatliche Prinzipien
Traumatisierte FlüchtlingeIn Deutschlandleben Hunderttausende, die Krieg und Folter erlebt haben und daher psychisch krank sind
Ehe der Staat Schutz
gewährt, hat er alles
noch schlimmer gemacht
DEFGH Nr. 230, Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019 HMG POLITIK 7
Jürgen Soyer (links) leitetdas Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer
„Refugio“, Joachim Herrmann (CSU) ist bayerischer Innenminister. FLORIAN PELJAK
Momente, die ein Leben prägen können: Ein Helfer bringt ein verwundetes Kind in Sicherheit, aufgenommen in Syrien Anfang 2018. FOTO: BASSAM KHABIEH / REUTERS
Hilfe in 41 Zentren