Berliner Zeitung - 05.10.2019

(Marcin) #1

Tausende Demonstranten zogen am Abend des 7. Oktober 1989 in RichtungPalast der Republik. Dortfeierte die Staats- undParteiführung den 40. Jahrestag der DDR. Stasi undPolizei lösten den Protestzug mit Gewalt auf. IMAGO IMAGES


I


mOktober1991hatteichFrank
Richternocheinmalindienun
leer stehende Kaserne der
DDR-Bereitschaftspolizei am
Blankenburger Pflasterwegbeglei-
tet. „Hier sind wir am 8.Oktober
1989, abends gegen 20Uhr, ange-
kommen“, erzählte er.„Unser Lkw
war rückwärts an dieHaustreppe
herangefahren, wir mussten in klei-
nenGruppenvonzweibisvierLeu-
tenvonderLadeflächespringenund
durcheinSpaliervonUniformierten
mit Gummiknüppeln, die uns an-
schrien, insHaus laufen.Ichhabe
Hundebellenhören,undunswurde
gesagt, dass bei einemFluchtver-
suchgeschossenwird.“
IchhabeFrankRichtervorlanger
Zeit schon aus denAugen verloren.
UndauchdiealtePolizeikaserneam
Pflasterwegistlängstabgerissen,auf
der Brache soll einmal einWohnge-
bietentstehen.DochmeinaltesNo-
tizbuchvon1991istnochda,indem
ich RichtersErinnerungen festhielt,
weilichdamalsfürdieBerlinerZei-
tung einen Artikel über dieEreig-
nissein Ost-Berlin rundumden40.
JahrestagderDDRrecherchierte.
Am7.und8.Oktober1989hatten
VolkspolizistenundStasi-Offizierein
der Gegend um dieGethsemane-
Kirche an der Schönhauser Allee
friedlicheDemonstranten, die für
demokratische Reformen in der
DDReintraten,brutalzusammenge-
knüppelt.EsgabHunderte Verletzte,
mehr als1000 Menschen wurden
„zugeführt“, wie es imPolizeijargon
hieß. In Polizeirevieren undHaftan-
stalten mussten dieFestgenomme-
nen Misshandlungen undErniedri-
gungenineinembisdahinfürDDR-
Verhältnisse beispiellosenAusmaß
erleiden.


FÜR FRANK RICHTER UND WEITERE
52 MÄNNER UND 23 FRAUENwardie
Torturbesondershart.Siewarenauf
LastwagenverladenundindiePoli-
zeikaserneamPflasterweggeschafft
worden, wo dieStasi ein Internie-
rungslager eingerichtet hatte.„Im
Erdgeschoss nahmen sie mir den
Ausweisabundsagten,dasshier,ab-
schließende Maßnahmen‘ erfol-
gen“,erzählteRichterdamalsimOk-
tober1991.„Dannjagtensieunsdie
Treppen hoch.Aufden Podesten


standenUniformierte,schlugen mit
GummiknüppelnandieEisengelän-
der und brüllten:‚Schneller,schnel-
ler!‘ und:‚Aus diesem Lager kommt
ihr nie wiederraus!‘ Aufdem Flur
mussten wir Männer unsvorden
Frauennacktausziehen,unterHohn
und Spott der PolizistenLiegestütze
und Kniebeugen machen.Stunden-
langstandenwirinFliegerstellung–
Beinegespreizt,Händeerhobenund
Blickzur Wand–aufdem Flur.Keiner
durfte sprechen oder sich bewegen.
Werzur Toilette wollte,musste den
WeginH äschen-hüpf-Sprüngenzu-
rücklegen.“ Einzeln, so erinnerte
sich Frank Richter,seien einige in
denKellergeführtworden,woStasi-
Offizieresie vernahmen. Manhabe
Schreie vondortgehört, manche
hättengeblutet,alssiewiederzurück
aufden Flurgebrachtwurden.
Derdamals 23-Jährige war nur
einZeugevonHunderten,dieinden
Tagen nach dem DDR-Jahrestag
übereinstimmendGewalttaten und
Willkürakte durchPolizei undStasi
schilderten. ChristophSingelnstein,
der damals derOpposition ange-
hörte und heute Chefredakteur des
RBB ist, erinnertsich daran. „Wir
hatten in derGethsemane-Kirche
schon vordem 7. Oktober einKon-
takttelefon eingerichtet, da wir be-
fürchteten,dassdieStaatsmachter-
barmungslos gegenOppositionelle
vorg ehen wird“, erzählt er.„Waswir
dann aber zu hören bekamenvon
den Betroffenen, die an diesenTa-
gen zusammengeknüppelt und zu-
geführtwordenwaren,daserschüt-
terte uns sehr.Wir baten sie,Ge-
dächtnisprotokolle über ihreErleb-
nisse anzufertigen, die wir dann
öffentlichmachenwollten.“
Schon in denTagen vordem 40.
Jahrestag der DDR-Gründung am
7.Oktober 1989 waren die DDR-Si-
cherheitskräfte in den Alarmzu-
standversetztworden.Dieregelmä-
ßigenProtestegegendiegefälschten
KommunalwahlenvomMai,dieseit
AugustanhaltendeFluchtwelleTau-
sender DDR-Bürger über Ungarn
und die CSSR in denWesten, die
Gründung desNeuen Forums im
SeptemberundnichtzuletztdieRe-
formpolitik Michail Gorbatschows
in Moskau ließen dieStimmung im
Landbrodeln.

Aufdem Alexanderplatz hatten
sich amNachmittag des 7.Oktober,
einem Sonnabend,Hunderte junge
Leute versammelt.Vereinzelt wur-
den Sprechchöregerufen wie „Wir
sind dasVolk“ und „Wir bleiben
hier“.ZivilgekleideteStasi-Mitarbei-
ter griffen sich immer wieder ein-
zelne Protestierer heraus und nah-
men sie mit.Diesogenannte auf 24
Stunden begrenzteZuführung war
in der DDR dieVorstufe einerFest-
nahme oder Verhaftung, für die
keine Begründung oder Rechts-
grundlagenotwendigwar.
Kurz nach 17Uhrsetzte sich die
GruppeaufdemAlexplötzlichinBe-
wegungundzogRichtungPalastder
Republik,wodieStaats-undPartei-
führungmitGorbatschowundande-
renausländischen Gästen feierte.
Unterwegs schlossen sich immer
mehr Passanten spontan an, sodass
rund3000MenschendieSpreebrü-
cke am Palast erreichten. Dortblo-
ckierteeineSperrketteausPolizisten
und Stasi-Kräften, die als FDJ-Ord-
nungsgruppe getarnt war,den De-
monstrationszug.AusderMengeer-
schollenRufe:„KeineGewalt“,„Wir
sind dasVolk“, „Gorbi, hilf“. Kleine
GreifergruppenderStasizerrtenein-
zelne Demonstranten hinter die
Sperrkette ,prügeltenaufsieeinund
stießensieaufbereitstehendeLkw.
Nach einerStunde gelang es den
Sicherheitskräften,dieDemonstran-
ten vomStadtzentrumweginR ich-
tungPrenzlauerBerg zudrängen.An
der Mollstraße griffen Angehörige
der Anti-Terror-Einheiten des MfS
mit großer Härte einzelnePersonen
wahllos aus der Menge heraus,
schlugen sie zusammen, obwohl
keine Gegenwehr erfolgte,und prü-
gelten sie brutal aufTransportfahr-
zeuge.Gegen20 Uhrwarschließlich
der Großteil derDemonstranten in
RichtungGethsemane-Kirche abge-
drängtworden.
Eine halbeStunde später wurde
der Bereich um dieKirche fast her-
metisch abgeriegelt.In dem Kessel
befandensichnunrund5000Men-
schen. Um Mitternacht begannen
Polizei undStasi mit der gewaltsa-
men Räumung. Sieprügelten mit
SchlagstöckenaufdieMenschenein
und jagtenFlüchtenden durchNe-
benstraßen nach.Sogar ein Wasser-

werfer kam –erstmals in der DDR –
zum Einsatz und richtete seinen
Strahl auch auf dieFenster vonAn-
wohnern,diesichmitdenDemons-
tranten solidarisierten. Häuser und
Wohnungen boten keinen Schutz –
zivile Stasi-Kräfte undVolkspolizis-
ten drangen gewaltsam in dieWoh-
nungenein,indiesichDemonstran-
ten geflüchtet hatten, und ver-
schlepptendieAnwesenden.
AmSonntagsolltevonvornherein
jeder Protest unterbundenwerden.
Stasi-ChefErichMielkestimmtedazu
am Vormittag mitPolitbüromitglied
Egon Krenz, demBerliner SED-Chef
Günter Schabowski undStasi-Vize-
ministerWolfgangSchwanitzdasVor-
gehen ab.Dabei konzentrierte sich
der Einsatz derSicherheitskräfte er-
neutaufdievermutetenZentrendes
Aufruhrs –den Alexanderplatz und
dieGethsemane-Kirche.

GEGEN 18 UHR SPITZTE SICH DIE
LAGE AN DER SCHÖNHAUSER ALLEE
erneutzu.WiederwurdedieGegend
rundumdieGethsemane-Kircheab-
geriegelt.Eine unerträglicheSpan-
nung lag in derLuft. AufGehwegen
undStraßen,in Fensternundauf Bal-
konen brannten nunKerzen, immer
wieder erschollenRufe „KeineGe-
walt“. Doch eine halbeStunde vor
Mitternacht schlug dieStaatsmacht
zu.WiederkamenSchlagstöckezum
Einsatz, einigeSicherheitskräfte gin-
gen zudem mit Schlagringen und
Reizgas vor. Bisspät in dieNacht hi-
nein durchkämmtenGreiftrupps die
Straßen desPrenzlauerBerg szwi-
schen Schönhauser undPrenzlauer
Allee.Erst gegen zweiUhrkam der
BefehlzumRückzug.Insgesamtwur-
den an beidenTagen mehr als 1000
Männer und Frauen „zugeführt“.
Eine großeZahl vonihnen wurde in
den Polizeirevieren misshandelt und
erniedrigt.Fast alle vonihnen, auch
die Internierten amBlankenburger
Pflasterweg,kamenspätestensinden
frühen Morgenstunden des 9.Okto-
ber wieder auf freienFuß. Lediglich
17 Personen wurden in Untersu-
chungshaft genommen.Siekamen
erstvier Tagespäterfrei.
Ihre Fre ilassungverdankten sie
auch der immer größerwerdenden
EmpörungunterdenOst-Berlinern.

Tageim


Oktober


VonAndreas Förster


Polizisten mit Schlagstöcken und Schilderngehen Richtung Demonstration. ULLSTEIN

Am7.und8.Oktober1989kamesinOst-Berlinzu


massivenÜbergriffenvonSicherheitskräftenauf


friedlicheDemonstranten.Mehrals1000Menschen


wurdeninhaftiert.MitteNovembernahmeine


unabhängigeUntersuchungskommission


dieArbeitauf.EinRückblick


Report


2 * Berliner Zeitung·Nummer 231·5./6. Oktober 2019 ·························································································································································································································································································

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