Berliner Zeitung - 05.10.2019

(Marcin) #1

Report


Berliner Zeitung·Nummer 231·5./6. Oktober 2019 3 *·························································································································································································································································································

Denn während die SED-gelenkten
Medien–auchdie BerlinerZeitung–
am9. Oktobernurkurzüber„Randa-
lierer“ berichteten, die „imZusam-
menspiel mitwestlichenMedien ...
republikfeindlicheParolen“ gerufen
hätten, worauf die„Schutz- undSi-
cherheitsorgane mitBesonnenheit“
reagierten,verbreitetesichdieWahr-
heit mündlich in derStadt. Betrof-
feneundAugenzeugenerzähltenih-
renFreunden und Arbeitskollegen,
was sichrund um dieGethsemane-
Kirche wirklich abgespielt hatte.
Auch unter Krankenhausmitarbei-
ternund ihrenBekannten machten
Berichte vonden vielenVerletzten
die Runde.Allein in den Kranken-
häusernwarenam7.und8.Oktober
19 Frauen und 39 Männer im Alter
zwischen 16 und 50Jahren behan-
deltworden–siehattenQuetschun-
genund BlutergüsseamganzenKör-
per,Prellungen der Nierenlager,
Schädel-Hirn-Verletzungen, Kopf-
platzwunden und Knochenbrüche.
Zwei schwangereFrauen waren
durchSchlagstöckeundReizgasver-
letzt worden.Beieinem Mann wur-
deneinSchädel-Hirn-Traumazwei-
ten Grades und einTrommelfellriss
diagnostiziert, er befand sich noch
Ende 1989 in stationärer neurologi-
scher Behandlung.Weitere163Ver-
letzte begaben sich an den folgen-
den Tagen in ärztlicheBehandlung;
viele weitereOpfer der Übergriffe
vermiedendenGangzumArzt,weil
siefürchteten,denBehördengemel-
detzu werden.


DER SCHOCK UND DIE WUT IN DER
BEVÖLKERUNG SASS TIEF,eine sol-
cheGewaltorgiegegenfriedlicheDe-
monstranten hatte es seit derNie-
derschlagung des Volksaufstandes
vom17. Juni 1953 nicht gegeben.
Unddie Empörung steigerte sich
noch, als Bürgerrechtler am 23.Ok-
tober auf einerPressekonferenz im
Gemeindezentrum„AmFennpfuhl“
erstmals öffentlich einige dervon
Betroffenenverfassten Gedächtnis-
protokolleverlasen.Vorden Augen-
vonBerliner und ausländischen
Journalisten übergaben sie eine
rund 100 Seiten umfassende Doku-
mentation mit denProtokollen an
einenVertreterder Generalstaatsan-
waltschaft mit der Aufforderung,


strafrechtliche Schritte gegenBetei-
ligteundVerantwortlichederbruta-
lenPolizeieinsätzeeinzuleiten.
Nunberichtete auch dieBerliner
Zeitung über das Thema, sogar auf
Seite 1. AmTagdarauf veröffent-
lichtedieZeitungallerdings–wiean-
dereSED-Medien ebenfalls–kom-
mentarloseineErklärungdesneuen
SED-ChefsEgon Krenz.Dieser be-
hauptete darin wahrheitswidrig,
dass„R owdys undGewalttäter“ un-
ter den Demonstranten auf der
Schönhauser Allee mit Brandfla-
schen,Eisenstangenund-kugelnso-
wieTotschlägernEinsatzkräfteange-
griffenhätten.Angeblichhabees
verletzte Sicherheitskräfte gegeben.
Später stellte sich heraus,dass an
beiden Tagen nur vierPolizisten zu
Schaden gekommen waren, alle
ohne Einwirkung eines Demons-
tranten.
DieErklärung vonKrenz ver-
puffte.Auf Demonstrationen, von
Künstlernorganisierten Veranstal-
tungenundinöffentlichenDiskussi-
onsrunden mit Parteifunktionären
wurde in den folgendenTagen der
Rufnach einerUntersuchungskom-
mission immer lauter.Schließlich
gründeten sich Anfang November
gleich zwei solcherGremien –eine
unabhängige,aus Oppositionellen,
KirchenvertreternundKünstlernzu-
sammengesetzte Kommission und
ein zweiter,von der Stadtverordne-
tenversammlung berufenerUnter-
suchungsausschuss,dem ebenfalls
Künstler und Kirchenleute,aber
auch Abgeordnete,Polizeioffiziere
undStadträteangehörten.
Nachdem die Bürgerrechtler
durchgesetzt hatten, dass diePoli-
zeivertreter abberufen wurden, fu-
sioniertenbeideGremienam9.No-
vember zu einer „ZeitweiligenUn-
tersuchungskommission“.
DieserKommissiongehörtenins-
gesamt 26 Männer undFrauen an.
Darunter waren nebenVertretern
desMagistratsundderStadtverord-
netenversammlung auch Arbeiter,
Ärzte ,Rechtsanwälte,Wissenschaft-
ler,KirchenleuteundOppositionelle
sowie mehrerenamhafte Künstler,
dieindenzurückliegendenWochen
öffentlichaufeine Untersuchungge-
drungen hatten.Zu ihnen gehörten
dieSchriftstellerChristaWolf,Chris-

tophHein,DanielaDahnundJürgen
Rennert, der Maler und Grafiker
Manfred Butzmann, derFilmema-
cher LewHohmann und die Schau-
spielerinJuttaWachowiak.
„Eine Untersuchungskommis-
sionhatteesbisdahinnichtgegeben
in der DDR.Wirhatten zum ersten
Mal–waszuvorniemalsjemandge-
wagt hatte–Rechte,die es in der
DDR-Verfassung gab,wahrgenom-
men“, sagt Daniela Dahn rückbli-
ckend. „Wir hatten etwas inBewe-
gunggesetzt.“ÄhnlichsiehtesChris-
tophHein.„DaswarenAnhörungen,
wie es sie in dem Land nie gegeben
hatte,diezuvornichtvorstellbarwa-
renund die jene,die für die Über-
griffe verantwortlich waren, zur
Weißglut trieben. Doch sie hatten
unsereFragenzubeantworten.“

Christoph Singelnstein erinnert
sichnochheuteandiehoheEmotio-
nalität, die das gemeinsame Arbei-
ten in der Kommission anfangs
prägte.„Da prallten wirklichWelten
aufeinander.DieVertreterder Staats-
macht konnten mit unsOppositio-
nellen nichts anfangen. Undwir
konnten mit denen nichts anfan-
gen“,sagter.„Schließlichkamhinzu,
dassparallelzurArbeitderKommis-
sion der Aufruhr weiterlief in der
DDR, es brannte–imü bertragenen
Sinne –ana llen Ecken undEnden
des Landes.“Im Laufe derZeit aber
seidie StimmunginderKommission
ruhiger,sachlicher geworden, weil
sichdie VerhältnisseimLandjaauch
änderten. „Wir hatten zunehmend
einMiteinander.“

Am 15. November 1989 begann
die Kommission mit denBefragun-
genvonVerantwortlichenundBetei-
ligten derEreignissevom7.u nd 8.
Oktober.AlsErsteswurdenderBerli-
ner Polizeipräsident Friedhelm
Rausch und derBerliner Stasi-Chef
Siegfried Hähnel befragt.Beide be-
stritten,dasseseinenBefehlzur Ge-
waltanwendung gegen Demons-
tranten gegeben habe.Eine unmit-
telbareVerantwortung für die ge-
waltsamen Übergriffe von
Einsatzkräftenlehntensieebensoab
wie die später befragtenEx-Innen-
ministerDickel undVize-Stasi-Chef
Schwanitz.Auch der frühereOber-
bürgermeisterErhardKrack, Hon-
ecker-NachfolgerKrenz,derehema-
ligeBerlinerSED-Bezirksvorsitzende
Schabowski undWolfgang Herger,

frühererLeiterderAbteilungSicher-
heitsfragen im SED-Zentralkomitee,
bekanntensichvorderKommission
lediglichzueinerallgemeinenpoliti-
schen Verantwortung.Eine Mitwir-
kung in derBefehlskette wiesen sie
zurück.
Martin-MichaelPassauer,derdie
Untersuchungskommission damals
leitete,erinnertsich, wie sehr ihn
dieses Verhalten damals erzürnte.
„Nicht einervondenen ließ irgend-
einZeichenvonReueoderSelbstkri-
tik erkennen.Aber wir alle in der
Kommission hatten nichts anderes
erwartet.Wirkannten ja dieVorge-
hensweise derGenossen“, sagt er.
„DochwirhabendieGenossennicht
einfach davonkommen lassen. Es
gingunsauchdarum,denenzuzei-

Andreas Förster
war als einziger Reporter bei
der Mielke-Befragung dabei.

„Eine Untersuchungskommissionhatteesbis


dahin nicht gegeben in der DDR.Wirhatten


zum erstenMal–was zuvor niemals jemand


gewagt hatte–Rechte,die es in der


DDR-Verfassung gab,wahrgenommen.


Wirhatten etwas inBewe gung gesetzt.“


Daniela Dahn,Schriftstellerin und Mitglied der „Zeitweiligen Untersuchungskommission“,
die ab dem 15. November 1989Verantwortliche und Beteiligte der Ereignisse
vom7./8. Oktober befragte

gen,dasswirdiesePolitik,dieseGe-
walt undWillkür nicht mehr haben
wolleninunseremLand.“
Obwohl dieZeugen sich störrisch
und uneinsichtig zeigten und der
Kommission relevante Unterlagen
vorenthalten wurden, gelang es dem
Gremium, dieVorgänge undVerant-
wortlichkeitenrundumden7.und8.
Oktober weitgehend zurekonstruie-
ren.„Vorallemgelangesuns,denOp-
fernGenug tuungwiderfahrenzulas-
sen“, betont ChristophSingelnstein.
„Eswarwichtig,dassalleZugeführten
undInhaftiertenvollständigrehabili-
tiertundentschädigtwurden.“
Einbeson dere sErlebnis war für
einige Mitglieder der Untersu-
chungskommission die Befragung
des einstigen Stasi-Chefs Erich
Mielke am 26.Januar 1990.Derda-
mals82-Jährigesaßbereitsseiteini-
genWochenin RummelsburginU n-
tersuchungshaft.
DieBefragungfandineinerZelle
auf der Krankenstation statt. Vor
demGesprächhattederAnstaltsarzt
gesagt, dass derEx-Minister in der
Untersuchungshaft einen totalen
psychischen und körperlichenZu-
sammenbruchgehabthabe.
Undtatsä chlichmachtedereinst
so mächtigeMann, der nun klein
und zusammengesunken auf sei-
nemHolzstuhlinderZellesaß,einen
körperlichundpsychischgebroche-
nen Eindruck.Stockendversuchte
er,aufFragenzuantworten,verhas-
peltesichdabeioft,unterbrachsich
häufigmittenimSatzun dschweifte
ab.„Wirwaren un szunächst unsi-
cher,obd er nunwirklich schon so
verwirrtistodereingenialerSchau-
spieler,der ei ne Senilität nurvor-
gibt“, erinnertsich Daniela Dahn,
diedamalsinRummelsburgalsstell-
vertretendeKommissionsvorsit-
zende dabei war.Sie sei sich aber
schnell sicher gewesen, dassMielke
nichtsvorspielte.
Inhaltlich habe die Befragung
nichts erbracht. „Wenn es konkret
wurde ,macht eMielkedicht.Dawar
deralte Geheimdienstmannstärker,
keineNamen,keine Details.Immer-
hin hat er bestätigt, dass er auf der
BrückeamPalastder Republikstand,
sichdie Situat ionvorOrtangeschaut
und angewiesen hat, fürRuhe und
Ordnungzusorgen.“

Am 14. März1990 beendete die
UntersuchungskommissionihreAn-
hörungen, anderthalbMonate spä-
ter,am27. April, erlosch mit dem
Ende der Ost-Berlin er Stadtverord-
netenversammlung auch ihrUnter-
suchungsauftrag.In Absprache mit
dem sogenanntenMagiSenat, der
gemeinsamenStadtregierung,setzte
die Kommission ihreArbeit –aller-
dingsmitreduziertenMöglichkeiten
–noch bis 1991 fortund legte dann
einenAbschlussberichtvor.Wesent-
licheAuszügedarauswurdenimsel-
benJahrals BuchmitdemTitel„Und
diese verdammte Ohnmacht“ her-
ausgegeben.
DerTitel des Buches klingt nach
Resignation, räumt heute Martin-
MichaelPassauerein.„Essindunter
dem Strich ja fast alle Täter,bis auf
einigewenigeniederrangigePolizis-
ten, ungestraft davongekommen“,
sagt er .„Es ist Unrecht geschehen,
aberesistniemandbestraftworden.
Wiefürsovieles,wasinderDDRge-
schehen ist.“Dennoch halte er die
KommissionfüreinederSternstun-
den desUmbruchs .„Siewar ein
Lernor tfür Demokratie.Wir alle –
Oppositionelle,Unangepasste,SED-
Genossen, Kirchenvertreter–übten
gemeinsam demokratischeSpielre-
gelnein,ohnedasswirunsgegensei-
tigandieGurgelgingen.“

SO SIEHT ES IM RÜCKBLICK AUCH
CHRISTOPH SINGELNSTEIN.In der
Kommission sei es immer auch um
viel mehr gegangen als nur darum,
wann welcher Befehl erteilt wurde
undwarumsichPolizistensooderso
verhaltenhaben.„Wirsprachenmit-
einander,machten unserepolitisch
entgegengesetztenPositionen dem
anderen verständlich“, sagt er.
„Diese Kommission führtevor, wie
einegesellschaftlicheVerständigung
der Ostdeutschen untereinander
stattfinden kann. Wünschenswert
wäreesg ewesen,dashätteindieser
Zeit an vielen anderenStellen auch
so funktioniert.Dashätte manches
vielleichtanderswerdenlassen.“
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