Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1
Karlsruhe– DerBeschluss des Landge-
richts Berlin in Sachen Renate Künast ist
nichts für sensible Naturen, aber man
muss daraus zitieren, weil er grelles Licht
auf ein grundsätzliches Problem wirft.
Welches Maß an Beleidigungen müssen
Politiker aushalten? Wie viel Dreck darf
auf sie gekippt werden, bevor die Justiz
einschreitet? Die 27. Zivilkammer des
Landgerichts – Holger Thiel, Sonja Hurek
und Katharina Saar – findet, dass die Grü-
nenpolitikerin Künast es hinnehmen
muss, auf Facebook als „Stück Scheisse“
bezeichnet zu werden. Auch „Geisteskran-
ke“ gehe in Ordnung, ebenso „Dreck-
schwein“. Selbst bei „Knatter sie doch mal
einer so richtig durch, bis sie wieder nor-
mal wird!“ vermögen die Richter keine Be-
leidigung zu erkennen. „Die Antragstelle-
rin wird nicht, wie sie dies meint, zum Ge-
genstand sexueller Fantasien gemacht“.
Nur bei „Drecks Fotze“ haben sie überlegt.
Das sei „haarscharf an der Grenze“ des
Hinnehmbaren. Eine sehr weit überzoge-
ne Kritik, das finden sie schon. Erlaubt sei
sie trotzdem.
Der Berliner Beschluss ist ein Lehr-
stück dafür, wie die sehr liberale Recht-
sprechung des Bundesverfassungsge-
richts zur Meinungsfreiheit bis ins Grotes-
ke überdehnt werden kann. So, wie das
Landgericht Berlin ihn interpretiert, wird
aus Artikel fünf Grundgesetz ein Freibrief
für Hass und Hetze. Dabei machen die
Richter im Ansatz sogar das meiste rich-
tig. Sie bewerten die Aussagen nicht iso-
liert, sondern in Zusammenhang mit dem
Thema der Facebookposts – einem mehr
als 30 Jahre alten parlamentarischen Zwi-
schenruf Künasts, den die ZeitungDie
Welt2015 zum Anlass genommen hatte,
Künast in die Nähe pädophiler Tendenzen
bei den Grünen der Achtzigerjahre zu rü-
cken. Der Vorwurf wirkt zwar an den Haa-
ren herbeigezogen, aber die Debatte be-
trifft fraglos ein wichtiges Thema, über

das mit harten Bandagen gestritten wer-
den darf, auch unterhalb der Gürtellinie.
Da muss man sich – da hat das Landge-
richt recht – gerade als Politikerin einiges
gefallen lassen. Richtig ist zudem der Hin-
weis, das Verfassungsgericht gehe im öf-
fentlichen Streit nur ausnahmsweise von
einer verbotenen „Schmähkritik“ aus –
und zwar dann, wenn es nur noch um per-
sönliche Diffamierung geht. Nur ziehen
die Richter nicht die Konsequenz aus den
eigenen Maßstäben: Dass „Drecks Fotze“
etwas anderes bedeuten könnte als Diffa-
mierung und Herabsetzung, das kann
selbst der versierteste Jurist nicht herbei-
argumentieren.

Man wird den Beschluss deshalb als
Ausreißer sehen müssen, den die nächste
Instanz vermutlich wieder einkassieren
wird. „Das Landgericht Berlin schlägt eine
traurige Richtung für die künftige Kom-
munikationskultur in unserem Lande ein,
die der Korrektur bedarf“, sagt Künasts An-
walt Severin Riemenschneider. Was sagt
dies alles über den großzügigen Umgang
mit der Meinungsfreiheit aus? Inzwischen
müht man sich verstärkt, Hass und Hetze
aus dem Netz zu tilgen, auch die Staatsan-

wälte erhöhen den Druck. Müsste nicht
auch die Justiz – namentlich das Verfas-
sungsgericht – die Schrauben anziehen?
Dessen Leitstern war von Anfang an ein
öffentlicher Diskurs, den man nicht mit
dem Knigge unterm Arm regulieren darf.
Es darf deftig zugehen, polemisch, zuge-
spitzt – solange noch Spurenelemente ei-
ner inhaltlichen Auseinandersetzung er-
kennbar sind. Die großen Entscheidungen
des Gerichts waren oft eine Verteidigung
scharfzüngiger Kritiker. Der Boykottauf-
ruf eines Hamburger Senatsdirektors ge-
gen den Regisseur des Nazifilms „Jud
Süß“ im Jahr 1950, die geniale Polemik
von Ralph Giordano, der Franz Josef
Strauß 1987 einen „Zwangsdemokraten“
nannte, auch die radikalpazifistische For-
mel „Soldaten sind Mörder“: Es ging um
große Fragen und mächtige Politiker.
In den letzten Jahren fällt freilich auf,
dass der Ton härter geworden ist. Das ist
mehr als nur eine Geschmacksfrage: Der
Mord an Walter Lübcke löste ein Nachden-
ken über die Frage aus, wann Hetze in Ge-
walt umschlagen kann – und was dies für
die Reichweite der Meinungsfreiheit be-
deutet. Das Verfassungsgericht ist bisher
beim Diskursparadigma geblieben. Unver-
drossen fahndet es nach dem Aussagege-
halt von Begriffen wie „durchgeknallt“,
oder überlegt, ob man „rechtsextreme Idi-
oten“ sagen darf (der Grünenpolitiker Vol-
ker Beck) und sich dafür „Obergauleiter
der SA-Horden“ nennen lassen muss. Das
ist im Einzelfall oft nachvollziehbar. Aber
die stete Suche nach der sachlichen Sub-
stanz in jeder noch so abseitigen Äuße-
rung verstellt bisweilen – siehe Landge-
richt Berlin – den Blick darauf, dass, was
nach Hass und Hetze aussieht, manchmal
eben auch nur Hass und Hetze ist. Viel-
leicht hilft hier der legendäre Satz eines
US-Richters zur Pornografie: Er könne sie
zwar nicht definieren. „But I know it when
I see it.“wolfgang janisch  Seite 4

von detlef esslinger

M


an weiß ja nie, aber mögli-
cherweise war zumindest
teilweise die Frage im Spaß
gemeint. „Du willst dich
nicht wieder als Vorsitzen-
der zur Wahl stellen“, hub die Chef-
redakteurin der Gewerkschaftszeitung an
in ihrem Abschiedsinterview. Und fügte
hinzu: „Sicher?“ Wie solle es „also weiterge-
hen ohne Frank Bsirske“, wollte sie später
noch wissen, von Frank Bsirske.
Jeder, der einen Job anfängt, muss ihn ir-
gendwann auch wieder abgeben. Nun ist
damit einer dran, der 18 Jahre lang seinen
Job besaß.Verdi-Chef Frank Bsirske, das
ist eine Wortkopplung wieSchwedische Kö-
nigin Silviaoder früher malBahnchef Meh-
dorn; Bezeichnung und Name gehören zu-
sammen wie Bein und Fuß, und ein großer
Unterschied zwischen Schweden, der Bahn
sowie der Gewerkschaft Verdi ist: Es gab
dann doch schon mehrere Königinnen in
Stockholm wie auch Bahnchefs in Berlin.
Es gab aber noch keinen Verdi-Chef außer
Bsirske. Als die Organisation im März 2001
aus fünf anderen Gewerkschaften hervor-
ging, war der damals 49-Jährige derjenige,
auf den man sich als Chef verständigen
konnte. Also mag man in der Tat leicht un-
gläubig werden, im eigenen Laden: Geht
der jetzt wirklich, beim Bundeskongress,


der am Sonntag in Leipzig beginnt?
Verdi hat knapp zwei Millionen Mitglie-
der, nach der IG Metall handelt es sich um
die größte Gewerkschaft im Land – und
um die mit Abstand komplizierteste. Sie or-
ganisiert Beschäftigte bei Versicherungen,
Druckereien, Kaufhäusern, Kindergärten,
Banken, Altenheimen, Friseurläden, Post,
Behörden und so weiter und so fort. Irgend-
jemand hat ausgerechnet, dass es an die
1000 Berufe sind, für die die Gewerkschaft
zuständig ist. Die Kunst für Bsirske und für
seinen designierten Nachfolger Frank Wer-
neke war, respektive wird es sein: gleicher-
maßen die Interessen von Arbeitnehmern
zu verkörpern, die bei Lebensgefühl und
-realität wenig gemein haben.

Das ist nicht nur mental eine Herausfor-
derung, sondern das verlangt auch ganz un-
terschiedliche Herangehensweisen: Bei
den Kommunen hat Verdi es gut, da gibt’s
relativ viele Mitglieder, da ist man in Tarif-
runden eine Macht. Bei Ersatzkassen, bei
der Telekom oder in Druckereien war die
Gewerkschaft dies lange, doch dort wird
seit Längerem Beschäftigung abgebaut;
die Organisation verliert Mitglieder und
muss sich mühen, ihren Einfluss zu halten.
Und dann gibt es die zahllosen Dienstleis-
tungsberufe, die auch für eine Vereinte
Dienstleistungsgewerkschaft – so der aus-
geschriebene Name von Verdi – grundsätz-
lich schwer zu organisieren sind: Friseurin-
nen, Verkäuferinnen oder auch Bestatter
arbeiten in der Regel in Kleinbetrieben, oft
in Teilzeit, mitunter befristet, oft handelt
es sich um Frauen. Womit die vier Fakto-
ren genannt sind, die traditionell einem
Beitritt zu Gewerkschaften entgegenste-
hen. Eine Industriegewerkschaft mit ihren
größeren Betrieben und überwiegend Män-
nern im Personal hat es da einfacher. Das
große Thema, auch des kommenden Verdi-
Chefs, bleibt daher: Wie schafft er es, dass
seine Gewerkschaft gegenüber Arbeitge-
bern etwas durchsetzt?
„Wir wollen ausreichend Menschen für
uns begeistern“, sagt Frank Werneke, 52,
dessen Wahl zum Nachfolger Bsirskes für

Dienstag angesetzt ist. Seit 17 Jahren ist er
dessen Stellvertreter und unter anderem
fürs Werben von Mitgliedern zuständig.
Werneke sagt, man sei darin sehr viel bes-
ser geworden. Im vergangenen Jahr traten
122 000 Menschen neu ein, das sei ein Ni-
veau wie zuletzt in Westdeutschland An-
fang der Achtziger. Es reicht halt nur nicht
ganz, um die Zahl der Verluste durch Aus-
tritte (vor allem von Rentnern) oder Tod
auszugleichen, und in manchen Branchen,
etwa der Altenpflege, ist ohnehin die Fra-
ge: Könnte eine Gewerkschaft im Konflikt-
fall genügend streikbereite Mitglieder auf-
bieten, um einem Arbeitgeber etwas abzu-
ringen? Und wie geht man eigentlich all die
Arbeitgeber an, die gar nicht erst willens
sind, Tarifrunden zu führen? Mit solchen

Inhabern hatte es Verdi immer zu tun, des-
wegen geht es auch zu einem großen Teil
auf das Fordern, Bohren und Drängen von
Frank Bsirske zurück, dass es inzwischen
den gesetzlichen Mindestlohn gibt.
Für den anderen Frank, also Werneke,
steht nun an, dort weiterzubohren, wo
Bsirske nicht ans Ziel gekommen ist. In
Branchen, „in denen anders keine fairen
Arbeitsbedingungen sichergestellt wer-
den können“, will er, dass der Staat jene Ta-
rifverträge, die Verdi vielleicht in einem
kleinen Teil dieser Branche erkämpft hat,
für allgemeinverbindlich erklärt. „Die fak-
tische Vetomöglichkeit der Arbeitgeberver-
bände gehört abgeschafft“, sagt er. Und
wenn der Staat sowie Firmen in seinem Be-
sitz Aufträge vergeben, sollten sie dies nur

noch tarifgebundene Firmen tun. „Dies wä-
re ein marktwirtschaftlicher Weg, die Tarif-
bindung zu erhöhen.“ Einige Länder und
Kommunen machen das schon. Öffentli-
che Aufträge haben ein Volumen von 400
Milliarden Euro, das sind 15 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts. Werneke findet,
so etwas wäre ein Hebel.
Er stammt aus Westfalen, wuchs auf in
Schloss Holte-Stutenbrock, einer Klein-
stadt bei Bielefeld. Dort machte er die Mitt-
lere Reife und begann 1983 eine Ausbil-
dung zum Verpackungsmechaniker, in ei-
ner Firma, die immerhin so groß und so
männlich geprägt war, dass der Beitritt zur
Gewerkschaft – damals die IG Druck und
Papier, einer der fünf Vorläufer von Verdi –
von den dort bereits Beschäftigten mehr

oder weniger erwartet wurde. Das übliche
Verfahren bestand darin, dass der neue
Azubi zum Betriebsratsvorsitzenden geru-
fen wurde, der übergab ihm dann feierlich
den Beitrittsantrag. Was bei diesem 15-Jäh-
rigen nicht nötig war: Der stammte aus ei-
nem politisch interessierten Elternhaus,
Mutter Prospekthelferin, Vater im Außen-
dienst einer Getränkefirma, der war schon
von alleine beigetreten. „Dem Betriebsrats-
vorsitzenden kam das verdächtig vor“, erin-
nert sich Werneke. „Der hielt mich wahr-
scheinlich für einen Linksradikalen.“ Das
waren noch Zeiten: als man sich um neue
Mitglieder nicht einmal bemühen musste.
Es wird nun sicher weitergehen bei Verdi,
ohne Bsirske, mit Werneke; aber so wie
1983 höchstwahrscheinlich nicht.

München– Die FDP verlangt, dass der
Bundestag das Wahlrecht nun „notfalls“
ohne die Union ändert. Das sagte der Parla-
mentarische Geschäftsführer ihrer Bun-
destagsfraktion, Stefan Ruppert, am Frei-
tag in Berlin – als Reaktion auf einen Ap-
pell, den 102 Staatsrechts-Professoren an
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble
(CDU) geschickt haben. Unterschrieben
hat ihn ein Großteil der Staatsrechtler von
Bekanntheit und Bedeutung, aus allen La-
gern: Hans-Herbert von Arnim, Ulrich Bat-
tis, Andreas Fischer-Lescano, Friedhelm
Hufen, Hans Meyer, Dietrich Murswiek
oder Karl-Albrecht Schachtschneider.

Der Bundestag hat eine Richtgröße von
598 Abgeordneten, zurzeit besteht er je-
doch aus 709. Bei den 111 zusätzlichen Sit-
zen handelt es sich um Überhang- und
Ausgleichsmandate. Überhangmandate
entstehen, wenn eine Partei in einem
Land mehr Direktmandate gewinnt, als
ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sit-
ze zustehen. Damit dennoch der Proporz
gewahrt bleibt, gibt es seit 2013 zusätzlich
Ausgleichsmandate. 2017 führte dies da-
zu, dass es nun 709 Abgeordnete gibt. Das
Parlament ist so groß wie noch nie. Debat-
ten zwischen den Parteien, das Wahlrecht
so zu ändern, dass der Bundestag wieder

kleiner wird, sind seit Jahren ergebnislos.
In ihrem Appell warnen die Staatsrecht-
ler, der nächste Bundestag könnte sogar
mehr als 800 Abgeordnete haben. „Die ge-
waltige Übergröße beeinträchtigt seine
Funktionen und bewirkt unnötige Zusatz-
kosten von Millionen Euro.“ Das Parla-
ment solle deshalb das Wahlgesetz „unver-
züglich“ vereinfachen, so dass es 2021 wie-
der nur 598 Abgeordnete sind. „Das ver-
langt Einschränkungen bei Abgeordneten
aller Parteien“, schreiben sie. „Im Interes-
se der Handlungsfähigkeit des Bundes-
tags müssen sie aber in Kauf genommen
werden.“ detlef esslinger

Im Netz übelst attackiert:
Renate Künast.FOTO: SOEREN STACHE / DPA

6 POLITIK HF2 Samstag/Sonntag, 21./22.September 2019, Nr. 219 DEFGH


Er geht.


Wirklich


Nie gab es einen anderen Verdi-Chef. Aber nun, nach
18 Jahren, übergibt Frank Bsirske an Frank Werneke

Mehr als grenzwertig


Was die Richter im Fall Renate Künast unter Meinungsfreiheit verstehen


FDP dringt auf Wahlrechtsänderung


Der Bundestag soll kleiner werden, „notfalls“ auch ohne Zustimmung der Union


Für geschätzt 1000 Berufe ist die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft zuständig: Für die bei einem Warnstreik pfeifende Klinik-Mitarbeiterin auf dem Foto ebenso wie
für Friseure,Bestatter oder Verkäuferinnen. Gegründet wurde Verdi im Jahr 2001. FOTO: DANIEL BOCKWOLDT/DPA

Frank an Frank: Bsirske (li.) und sein
designierter Nachfolger Werneke.FOTO: DPA


Der künftige Vorsitzende trat
schon mit 15 der Gewerkschaft
bei. Das machte ihn verdächtig

DASGANZESEHEN–


MITCAPITAL.

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