Berliner Zeitung - 21.09.2019

(Ron) #1

Feuilleton


Berliner Zeitung·Nummer 220·21./22. September 2019 27 *·························································································································································································································································································

MenzelbetrachtetedieWeltoffenbar
wie seinerzeit Rembrandt, dem
nichts Menschliches fremd war.Er
hattedenNiederländer,dessenLicht
aufdunklemGrundunddessencon-
ditio humana, in den 1840er-Jahren
tagelangimKupferstichkabinett,da-
malsimSchlossMonbijou,studiert.
EtwasganzBesonderesistdadie
Mischtechnik „Ein tanzenderMaler
(Selbstbildnis)“. Menzel versetzte
sichindieRolledesdieGenickstarre
und dieErlahmung der Arme ab-
schüttelnden Hofmalers Antoine
Pesne,als KronprinzFriedrich die-
senaufdemGerüstfüreinDecken-
fresko besuchte.Bissig verweist
Menzel hier auf die kräftezehrende,
fast artistische Körperleistung jener
Maler,diedieherrschaftlicheUnge-
duld ihrer Auftraggeber ertragen
mussten.Daswar einst schonMi-
chelangelo unterPapst Julius in der

SixtinischenKapellenichtanderser-
gangen.Unddann stehen wir auch
vordem „Schlittschuhläufer“, 2018
für das Kupferstichkabinett ausPri-
vatbesitz ersteigert. Dieser Zuge-
winn dient als eigentlicher Anlass
der Schau, hinzu kommenweitere
Menzel-Neuerwerbungen, die seit
dem Krieg alsverschollen galten, so
die„DameimCoupé“undder„Herr
imCoupé“,beidevon1859.
Menzels Papier-Gemälde,meist
spontan nach direkter Anschauung
entstanden, erzählenvonden radi-
kalenUmbrüchenseinerZeit,derin-
dustriellenRevolution. Allesverän-
dertesich.Damals,alserdas weltbe-
rühmte „Eisenwalzwerk“ (AlteNa-
tionalgalerie) malte,begann, was
heutemitderdramatischenAusbeu-
tung der fossilen Ressourcen der
Erde,der Ackerflächen, Wälder,
Meere, und Gewässer,was mit der

Zerstörung derNatur einenKulmi-
nationspunkterreichthat.
Gerade den Papierarbeiten kön-
nenwirentnehmen,dassMenzeldie
industrielleZukunftseuphorie zwar
gebannt insBildhafte umsetzte,sel-
beraberkaumteilte.Eherliestman
Skepsis,auch Erschrecken ausBlät-
ternwie „Dompteur“,woe in Lö-
wen- und Leopardenbändiger sich
die wilden Tierebrutal untertan
macht.UndauchMotivewie„B ren-
nendes Haus“ und „Rauchender
Schornstein“, wo er mit schmutz-
brauner Tuschediesesfrühkapitalis-
tische Kapitel der Umweltver-
schmutzungaufeinkleinesBlattPa-
pier pinselte,belegen Menzels kriti-
scheZeitzeugenschaft.

Kupferstichkabinett,Kulturforum, bis 19.
Januar 2020, Di–Fr 10–18/ Sa+So 11–18 Uhr,
Katalog (Imhof)29,95Euro

„Ein tanzender Maler (Selbstbildnis)“,
Skizze, Mischt., 1861SMB/KUPFERSTICHK./ANDERS


Europakritik,aberauchmitdemRestbestandihrer
wirtschaftsliberalenPositionenverschmolzen.

BrauchtderentgrenzteKapitalismuseinbestimmtes
politischesSystem?
Er ist sehr anpassungsfähig.In seiner Ge-
schichteist er die verschiedenstenAllianzen ein-
gegangen,mitDemokratien,mitOligarchien,mit
Autokratien, mit Militärdiktaturen. Er benötigt
nur ein paar elementareGrundbedingungen,Ei-
gentumsgarantien, ein wenig Rechtssicherheit
undInvestorenschutz.DarumkonnteermitRegi-
men, die sich als sozialistischebegriffen, nichts
anfangen.Erst als man konkrete Bereicherungs-
angebotemachte,sei es in Russland, sei es in
China, konnte man derVersuchungnicht wider-
stehen.SelbstpolitischeVerfolgungoderderVer-
zicht auf rechtsstaatlicheNormen fallen da nicht
sonderlichins Gewicht. Nureiner Legendesollte
manmisstrauen:dassderKapitalismusbesondere
Vorliebe für demokratische Prozeduren hätte.
SchonheutelässtsichinderglobalenFinanzord-
nungeinetransnationaleExekutiveerkennen,die
mit der Androhung vonKapitalflucht,Zinsnach-
teilen und Investitionsverzicht zu einer ArtGe-
fängnisfürVolkswirtschaften,Gesellschaftenund
Regierungsaktivitätengewordenist.

Sieunterrichtenan einer Elite-Universität in den
USA.WerdenSiemitihrenPositionendortalsKom-
munistwahrgenommen?
Warumsollte ich? Dortgilt ja als Kommunist
oder Sozialist, wersich für eine funktionierende
Kranken- und Sozialversicherung einsetzt.Einer-
seits.Anderseitsistesinteressantzusehen,wiesich
gerade in den Wirtschaftswissenschaftenin den
USA eine Vielfalt vonheterogenen Positionener-
haltenhat.NebendemMarktliberalismusundsei-
nen Varianten gibt es gemäßigteoder radikale
Keynesianer,aber auch Marxisten und gerade
heuterechtprominenteKritikerdesFinanzmarkt-
kapitalismus.Die Debatten dortsind bunter als
hierinDeutschland.

Wennichzusammenfassendarf:SiefindendenMie-
tendeckelgut?
EsisteinVersuch,Politikwiederpraktischwer-
den zu lassen. Es ist überraschend, wie die bloße
AdressierungeinesNotstands,angefangenvonder
Enteignungsdebatte,die Kevin Kühnertangesto-
ßenhatte,biszum Mietendeckel,sovielAufregung
auslösen konnte.Mit diesenAbwehrgesten war
manan Sachfragennichtinteressiertundhatdieal-
ten Horrorszenarienvomsich herbeischleichen-
denSozialismusandieWandgemalt.Aberoffenbar
wurde einNerv getroffen: dass es hier um einen
Konflikt unterschiedlicher und womöglich unver-
einbarerInteressengeht.DieInteressenvonlohn-
abhängigenMieternhabenebennichtsmitdenen
vonGroßinvestoren zu tun.Unddad ie ökonomi-
schen Kräfteverhältnisse ungleichverteilt sind, ist
esder AuftragderPolitik,dor tzui ntervenieren. Das
istderenureigensteAufgabe–gut,dassdaranwie-
dereinmalerinnertwordenist.

„Rauchender Schornstein“, Pinsel-Tu-
sche, um 1860/75 SMB/KUPFERSTICHK./D. KATZ

Bereicherungsmaschine“


DerKulturwissenschaftlerJosephVoglerforschtseitJahrendieIdeengeschichtedes


Kapitalismus.JetztbringtersichindieDebattezumBerlinerMietendeckelein


grundlageundalseineArtöffentlichesGutangese-
hen. Undwenn dafür einmal dreißig oder mehr
Prozent der Einkünftebezahlt werden müssen,
wirddasalsZerstörungvonVitalressourcenwahr-
genommen.Ichdenke,dasshiereinegroßeEinig-
keit bei der Mehrheit der Bevölkerung herrscht,
auchwenndasnichtimmermitgroßemLärmvor-
gebrachtwird.

EsisteinElitendiskurs,dersichgegendenMietende-
ckelinStellungbringt?
DerBegriff Elite ist ganz und gar schwammig
und hat in der letzten Zeit nur dazu gedient,ir-
gendeineominöseVorherrschaftzu denunzie-
ren. Aber man kann ja genauerhinsehen.Wenn
etwaderChefvonVonovia,demgrößtenVermie-
ter in Deutschlandmit 43000Wohnungenauch
in Berlin, kürzlich davon gesprochen hat, dass
der Mietendeckelder allein erziehendenMutter
oderähnlichsozialSchwachengarnichtsbringe,
soredeternichtalsVertretervonalleinerziehen-
denMüttern.ErsprichtalsVertretervonAktionä-
ren, denen dieWohnungsnotin den letzten fünf
JahreneineVerdoppelungihrerAktienwerteein-
gebrachthat.DerErfolgsolcherManagerwirdan
derSteigerungdessogenanntenShareholder-Va-
lue gemessen,nicht amWohl vonMütternoder
Sozialfällen.Dassollten auch Politiker wissen,
diediesemAlarmbeipflichten.

Macht vielleichtdie Entwicklungam Wohnungs-
marktdasProblemdergegenwärtigenFinanz-und
Wirtschaftsordnungerstrichtigsichtbar?
Es macht ein wenig Hoffnung.Seit langem
scheinenwirunsineinerSituationzubefinden,die
durch eine Sklerose der politischenEinbildungs-
kraft gekennzeichnet ist. Mankann sich eher das
Ende derWelt als das Ende des Kapitalismusvor-
stellen.ÄnderungensindnichtinSicht.Unddann
plötzlichdas:EinkonkreterNotstandwirdklardefi-
niert, Widerstandorganisiert, und die Politik rea-
giertsogar.OffenbarsinddochrechtvielederMei-
nung,dasswirnichtunbedingtinderbestenaller
ökonomischenWeltenleben.

Haben Ergebnisse der AfD auch mit dem ideologi-
schenUmgangderParteienmitdemMarktzut un?
Daskannichnichtsagen.Aberesgibteineauf-
wendige statistische Studie,die nachweisen
konnte,dassBanken-undFinanzkrisenfastimmer
mit einem starkenStimmenzuwachs fürrechtsex-
treme Parteien undPositionenverbunden waren,
während mehr oderweniger linkeParteien nicht
davonprofitierten.DasgiltvomEndedes19.Jahr-
hunderts über dieWeimarer Republik bis heute.
DieWirkungen internationalerFinanzmärkte ha-
ben sich in einenReflex gegen allesFremde über-
setzt.Manvotiertdannfürs Volk,fürdieNation,für
die kräftigeHand oder den starkenStaat. Daser-
weistsichalsüberaussystemrelevant:Marktdyna-
miken, konkreteProduktions- undEigentumsver-
hältnissegeratendannnichtmehrindenBlick.Das
zeigtsichbisheuteetwaanderAfD.Siehaterfolg-
reich die Pflege vonRessentiments mit ihrer

dassdieserKapitalismussehrvielmehrElendund
Ungleichheitverträgt,alsmandachte.


Zu dieser Zeit begann derFinanzmarktkapitalis-
mus,derseitherdominiert?
ErwurdezumentscheidendenKriteriumkapi-
talistischenWirtschaftens.Und trotz aller Krisen
undCrashswillmanimmernochbehaupten,dass
dieFinanzmärktealsMärkteallerMärkteundso-
mit auf idealeWeise funktionieren.Reibungslos,
ohnebesondereTransaktionskosten,mitderbes-
tenVerteilungvonInformationen.Manhatdasdie
Hypothesevonder Effizienz der Märkte genannt:
JemehrmansichdenFinanzmärktenüberlässt,je
mehrLeutemitnochmehrGelddabeimitspielen,
desto mehr sollen diese MärkteWohlstand,Aus-
gleich und sogarVorsehung herstellen –eine
glücklicheWelt ohne Risiken.Daswar wohl einer
dergrößtenIrrtümerderWirtschaftsgeschichte.


BesondersgroßwarderIrrtum,wennmansichdie
Gentrifizierung derMetropolen weltweit ansieht −
sehenSiedasauchso?
Nicht alle Güterwerden dadurch am besten
verteilt,dassmansieaufdenMarktwirft. Wennes
einmalkritischwird,kannmanebenaufsWohnen
nicht in derselbenWeise verzichten wie auf die
nächsteUrlaubreise.UndmancheMietpreiserhö-
hungenlassenkeinenZweifeldaran,dassmanden
MieternschlichtandenKragenwill.Dashatauch
nichtsmitdemheiterenSpielvonNachfrageund
Angebotzutun.ZurRettungdesBanken-undFi-
nanzsystemshatmanseit2008sehrvielGeldindie
Finanzmärkte gepumpt.Zudem war einePolitik
desbilligenGeldes–mitNull-oder Negativzinsen
–mitder Hoffnungverbunden,dauerhaftesWirt-
schaftswachstumzuerzeugen.DannistetwasUn-
erfreulichespassiert:GroßeTeilediesesleichtver-
fügbarenGeldessindnichtinInfrastrukturenoder
produzierendeGewerbe,sonderninF inanz- und
Immobilienmärktegeflossen.


MietersollennunRenditebringen?
Investoren können sich naturgemäß nicht da-
mit zufrieden geben, dass dieMieter regelmäßig
ihreMiete bezahlen.Manwettet vielmehr auf
Preissteigerungen. Undtatsächlich haben die
MieterhöhungenvondreißigbisfünfzigProz entin
denletztenJahreneineVervielfachungvonAktien-
werten beschert, etwa bei derDeutscheWohnen
AG.Undder Mietendeckelmusshieralseineüble
Spielverderberei erscheinen:Prompt ist der Akti-
enkursseitdiesemSommerummehralszwanzig
Proz ent abgestürzt.DerMarkt mag gebremste
Mietennicht.


InBerlinistjafastjederMieter.Warumaberistge-
rade die Kritik amMietendeckel so ohrenbetäu-
bend?
Dielautstarke Kritik hatwenig mit derEin-
schätzung der meisten Leute zu tun.Manmuss
sichnurumhören.QuerdurchdiesozialenSchich-
ten undEinkommensklassen wirddas Wohnen
nicht alsPrivileg oderWare, sondernals Lebens-


JosephVogl an seinemWohnzimmer-
tisch in Kreuzberg. PAULUS PONIZAK

ZUR PERSON

JosephVogl,g eboren 1957,wohnt
seit Jahren in Kreuzberg und arbei-
tet als Professor für Neuere deut-
sche Literatur,Literatur- und Kultur-
wissenschaft/Medien an der Hum-
boldt-Universität zu Berlin.

Gleichzeitigmuss er sich wieder-
kehrend aufWohnungssuche bege-
ben. Nämlich immer dann,wenn er
seinem zweitenJobnachgeht als
PermanentVisiting Professor an der
renommierten Princeton University.

Seinekomplexenund erhellenden
Bücher setzen sich ideengeschicht-
lich mit dem Kapitalismus ausein-
ander und wurden breit diskutiert.

Zuletzt erschienenvonJosephVogl
im Jahr 2015 bei diaphanes „Der
Souveränitätseffekt“ und im Jahr
2010 „Das Gespenst des Kapitals“
(2010).

Interview: Kai Schlieter


NACHRICHTEN


Streit umWelfenschatz vor
Supreme Courtder USA

ImseitJahrenandauerndenStreit
zwischenNachfahrenjüdischer
KunsthändlerundderStiftungPreu-
ßischerKulturbesitzumdenWelfen-
schatzhatdieStiftungdenObersten
BundesgerichtshofderUSAangeru-
fen,dasgehtauseinemTweetdes
StiftungspräsidentenHermannPar-
zingerhervor.DieErbenwarenvor
denDistrict CourtinWashingtonge-
zogen,dereineZuständigkeitfür
eineKlagegegendieStiftunger-
kannte.DieBerufungdagegen
wurdeabgelehnt.DieStiftungwill,
dassderU.S.SupremeCourtdie
Klagealsunzulässigabweist.Nach
deutschemRechtwäreeinVerfahren
wegenVerjährungunmöglich.(dpa)

Nach Protest: Moskauer
Schauspielerkommt frei

NachmassivemProtestgegenJustiz-
willkürinRusslandhateinGerichtin
MoskaudenzudreieinhalbJahren
Straflagerverurt eiltenSchauspieler
PawelUstinowausder Haftentlas-
sen.Der23-JährigekommtamFrei-
tagsiebenWochennachseinerFest-
nahmeunterAuflagenfrei,wiedie
AgenturInterfaxmeldete.Erd ürfe
aberdie Stadtnichtverlassen.Usti-
nowwaram3. Augustam Randeei-
nernichtgenehmigtenKundgebung
mitPolizeigewaltfestgenommen
worden.DerSchauspielerhattebe-
tont,zufälligandemOrtgewesenzu
sein.DagegenhatteeinPolizistvor
Gerichtausgesagt,Ustinowhabe
ihmdieSchulterausgekugelt.Der
UniformierteerhielteineBeförde-
rung,UstinowdreieinhalbJahre
Straflager.(dpa)

Der SchauspielerPawel Ustinow ist wie-
der auf freiem Fuß. DPA/SERGEI FADEICHEV

„Boot“-Autor starkin
NS-Propaganda verwickelt

Der2007gestorbeneKunstsammler
undBuchautor(„DasBoot“)Lothar-
GüntherBuchheimwarnachEr-
kenntnissendesJournalistenGerrit
ReichertweitausstärkerindieNS-
Propagandaeingebundenalsbisher
bekannt.BuchheimhabeseineRolle
imPropaganda-ApparatderNatio-
nalsozialistennachdemZweiten
Weltkrieggeschönt.Buchheimwar
Kriegsberichterstatter.SeineErleb-
nisseinU-Bootenschilderteerin
demspätererfolgreichverfilmtenRo-
man„DasBoot“.(dpa)

Telekom will sich Rechte an
Fußball-EM sichern

DieTelekomstehtkurzvordem Kauf
derTV-RechtefürdieFußball-Euro-
pameisterschaft2024inDeutsch-
land.NachInformationenderDeut-
schenPresse-AgenturwilldasUnter-
nehmenaberSublizenzenverk aufen.
DamithättenauchARDundZDFdie
Chance,weiterSpieledeskontinenta-
lenWettbewerbszuzeigen.Zuerst
hattendieBildunddieFAZüberden
Rechte-DealdurchdieTelekombe-
richtet.SiehattensichaufInforma-
tionenausKreisendereuropäischen
Fußball-UnionUEFAberufen. Der
Beschlusssolleindenkommenden
Tagenfallen.DieTelekomwolltedie
Berichtenichtkommentieren.Der
Rundfunkstaatsvertragschreibtaller-
dingsvor,dassEM-Spielederdeut-
schenMannschaft,dieHalbfinals
unddas FinaleinjedemFallfreiemp-
fangbarseinmüssen.(dpa)
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