Berliner Zeitung - 21.09.2019

(Ron) #1

22 21./22. SEPTEMBER 201921./22. SEPTEMBER 2019


S


ieistdieaktuelleOscar-Hoffnung
fürDeutschland.DieAuslandsver-
tretungdesdeutschenFilmswählte
Nora FingscheidtsFilm„System-
sprenger“alsKandidatfürdieKategorie
„Bester nicht-englischsprachiger Film“.
Dasmagjetztganzselbstverständlichklin-
gen,weildieNachrichtschoneinpaarWo-
cheninderWeltist.DochalsderFilmzum
Jahresanfang imWettbewerb derBerlinale
uraufgeführtwurde ,kannte noch kaum je-
mand denNamen der Regisseurin.Das
Themavon„Systemsprenger“–wiestaatli-
cheundstädtischeEinrichtungenaneinem
schwer erziehbaren Mädchen scheitern–
ließ keinen Kritiker unberührt.Seit Don-
nerstagistderFilmindenKinosundmuss
sich in diesenZeiten der sinkendenZu-
schauerzahlenvordem Publikum bewei-
sen. „Systemsprenger“ ist allerdings mehr
als nur einFilm über einKind und die mit
seiner ErziehungBeauftragten.Er handelt
vomZusammenleben in derGesellschaft,
vomUmgangmitAußenseitern,vonderFä-
higkeit,LösungenfürKonflikteauchaußer-
halb der üblichenWege zu suchen.Nach
vielenJahreninBerlinlebtNoraFingscheidt
mit ihrer Familie in Hamburg. ZumGe-
sprächtrafenwirsieinderHamburgerLan-
desvertretung in Berlin, einem Gründer-
zeitbau in Mitte,woeinst der Kulturbund
derDDRresidierte.

Es gibt kaum einen Bereich der Gesellschaft,
über den so vonEmotionenbegleitetdisku-
tiertwirdwiedieKindererziehung.WarIhnen
bewusst,dassSiemitIhremFilmineinWes-
penneststoßen?
Nicht in dem Maße.Doch ich habe bei
der Recherche schnell gemerkt, dass be-
stimmteAspektevonKindheit in unserer
Gesellschaftverdrängt sind. DieTatsache,
dass jede große Stadt eine Kinderpsychiat-
riehat,diemeistensrappelvollistundnoch
eine Warteliste hat, wissen viele Leute gar
nicht.OderdassesnochKinderheimegibt,
die heute nur anders heißen,Wohngrup-
pen, ist vonder allgemeinenDiskussion
überErziehungabgespalten.

„Systemsprenger“isteinerderFilme,überden
mannichtsagenkann,dasser„ganzgut“war.
DieLeute werden entwederdavon berührt
undbewegtseinoderihnablehnen,weilerih-
nen zu hartist. Es ist ein Film, zu dem man
eineHaltungeinnehmenmuss.
Eristnichtdafürgemacht,einDebatten-
beitragzusein.Aberesfreutmich,dassesei-
nergewordenist.DieIntentionwar,eineGe-
schichtezuerzählen,dieeinenmitreißt,weil
mansichmöglichststarkmiteinemsehram-
bivalentenCharakter identifiziert. Es ging
nichtdarum,denFilmextrahartzumachen.
ImVerhältniszurRealitäthabenwirihnzum
Teilsogarabgeschwächt.

DasWortSystemsprenger ist in der Kinder-
und Jugendhilfeumstritten.Warum haben
SieesfürdenFilmgewählt?
IchbinwährendderArbeitaneineman-
deren Film auf dieses Wort gestoßen.Im
Auftrag derCaritas drehte ich inStuttgart
einen Dokumentarfilm über einHeim für
wohnungsloseFrauen.Unddaz ogein14-
jähriges Mädchen ein, was mich wirklich
geschockt hat. Doch dieSozialarbeiterin
sagte gelassen:Ach, die Systemsprenger,
die können wir ab ihrem 14.Geburtstag
aufnehmen.

Ab14erwachsen?
Nichterwachsen,sondernnichtmehrim
RahmenderKinder-undJugendhilfezuver-
sorgen. DieBegegnung mit demBegriff hat
michzumNachdenkengebracht.Erklingtso
kraftvoll, beschreibt aber etwasTragisches.
SowurdeerunserArbeitstitel,undichhabe
gemerkt, dass er immer sofortneugierig
machte.Natürlich trifft er denKern der Sa-
chenichtganz.

WasmeinenSiedamit?
DasKindmachtjanichtaktiveinSystem
kaputt. DiegängigenMaßnahmen desSys-
temsscheiternani hm.Außerdemwurdemir
oft gesagt, ich soll denTitel ändern,weil er
nach Computer-Hackernoder nach G20-
Gipfel-Protestenklingt.

Stimmt.
Ichwaroffendafür,dochesfandsichkein
besserer .ImA usland wirderm anchmal ge-
ändert.

Wie?
In mancheSprachen ist derBegriff nicht
übersetzbar.Undin FrankreichzumBeispiel
wirdere infach„Benni“heißen.

DerKontrast zwischen dem zarten Mädchen
unddemstarkenWortsorgtfürdieersteÜber-
raschung.
Sogar für mich.Ichhätte nicht gedacht,
dass Benni strohblondwerden würde.In
meinerVorstellung war es ein dunkelhaari-
gesMädchen.Unddannkamdieseeisprin-
zessinhafteErscheinungvonHelenamitdie-
Über ihre eigene Kindheit sagt NoraFingscheidt: „Es ist ein Glück, dass niemand versucht hat, mir irgendwelche Pillen zu verabreichen.“ BERLINER ZEITUNG/PAULUS PONIZAK ser fast durchsichtigen hellenHaut, die so


Ichwar


selbstein


wildes


Kind


NoraFingscheidtsFilm


„Systemsprenger“rührtans


Herz,aberauchaneinemTabu:


Esgehtumschwererziehbare


Kindersowieum


dieMenschen,diesichfürsie


aufopfernundüberdiesiesagt:


„Ohnesiewärenwirverloren“


VonCornelia Geißler

Free download pdf