Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1
119

Kino

Späte Gerechtigkeit


 Zunächst hatte der Regisseur François
Ozon eine Dokumentation über die Miss-
brauchsfälle der katholischen Kirche in
Frankreich geplant, doch nun kommt
»Gelobt sei Gott« als Spielfilm in die
Kinos. Seine Geschichte beruht auf einem
wahren Fall aus Lyon. Der Familienvater
Alexandre (Melvil Poupaud) will in
einem Brief an den Kardinal offenlegen,
dass er vor Jahrzehn-
ten als Kind in einem
Pfadfindercamp miss-
braucht worden ist.
Zusammen mit zwei
weiteren Opfern des
Geist lichen beschul-
digt er den Priester
Bernard Preynat
öffentlich des Kindes-
missbrauchs. Ein auf-
reibender Kampf um
späte Gerechtigkeit
beginnt.
Bevor der Film im
Februar in Frank-
reich ins Kino kam,


hatte Preynat gegen seine Veröffent -
lichung geklagt. Die Klage wurde abge-
lehnt. Im März wurde der Lyoner
Kardinal Philippe Barbarin wegen der
Vertuschung der mehr als 70 Miss-
brauchsfälle des Priesters zu einer Frei-
heitsstrafe von sechs Monaten auf
Be währung verurteilt. Im Juli hat ein
Kirchengericht Preynat seines Amtes
enthoben. Auf der Berlinale 2019 wurde
»Gelobt sei Gott« mit dem Silbernen
Bären ausgezeichnet. RED

Stil

Nicht sexy gemeint


 Im September werden traditionell die
Kulturfragen der vergangenen Saison
resümiert: Welchen Sommerhit wird man
noch bis in den Advent hassen? Und wel-
che Bademode lohnt es für den nächsten
Sommer aufzuheben? Neben komplexem
Schnürwerk, das die Rollbratenanmutung
einer Römersandale in die Schwimm -
pellenästhetik übersetzte, sah man dieses
Jahr auch wieder einen
Klassiker des Unange-
zogen-angezogen-
Seins an den Stränden
und Pools: den roten
Badeanzug, auf ewig
verbunden mit der Ret-
tungsschwimmersaga
»Baywatch«. Instag-
ram-Postings von
Kylie Jenner, Jennifer
Lopez und Selena
Gomez in entsprechen-
dem Schwimmdress
genügten für sein
Comeback, auch wenn
sie die Schnittform des
Originals großzügig
interpretieren. Der
echte »Baywatch«-Ein-
teiler vereint einen
eher diskreten Rund-
ausschnitt mit sehr


hoch angesetzten Beinöffnungs linien, die
den Oberschenkeln betonte Schlegelig-
keit verleihen. Dabei sei das Outfit, das
der Arbeitskleidung südkalifornischer
Rettungsschwimmerinnen nachemp-
funden ist, erst gar nicht sexy
gemeint gewesen, sagt »Baywatch«-
Drehbuchschöpfer Michael Berk:
»Es ging uns nur um Sportlichkeit
und Funktionalität.« Die Zeitlupen -
sequenzen zu Beginn jeder Folge, in
denen der Cast in besagten Anzügen
durch den Sand
schleichsprintet, habe
sich die Serie von den
Auf nahmen olympi-
scher 100-Meter-Läu-
fer abgeschaut.
Pamela Anderson,
52, die Mutter aller
»Baywatch«-Bade -
anzug-Trägerinnen,
rät derweil, wie
man das Schwimm -
outfit auch im Winter
nutzen kann – sie
überrasche damit
gelegentlich ihren
Freund: »Ich springe
im Badeanzug
unter die Dusche
und werfe mich dann
tropfnass auf ihn,
egal wo im Haus er
gerade steckt.« ARÜ

Nils MinkmarZur Zeit

Zug zur Erkenntnis


Am Dienstagnachmittag be -
stieg ich um 17 Uhr im Ham-
burger Hauptbahnhof einen
ICE in Richtung Süden und
war schon um 22 Uhr wieder
am Hamburger Hauptbahn-
hof. In nur fünf Stunden nirgend-
wohin kommen – solch eine mobilitäts-
philosophische Challenge stellt uns
lässig und werktags die Deutsche Bahn.
Es war wie die »Odyssee«, nur kürzer.
Besonders spannend wurde die Reise
nach nirgendwo mit der Durchsage des
Zugchefs, es werde nun kostenlos
Trinkwasser ausgegeben. Da standen
wir schon länger in norddeutscher
Nacht. Diese Durchsage führte bald zu
einer zweiten, dass nämlich das Wasser
nun verbraucht sei, und insgesamt stei-
gerten solche – wenn auch wohlgemein-
ten – Ansagen spürbar die Nervosität.
Es hatte einen Sturm gegeben, nun
lagen Bäume auf der Strecke, die Ober-
leitung führte keinen Strom, niemand
hatte daran gedacht, Züge im Bahnhof
zu lassen – obwohl der Sturm schon
eine Weile her war.
Am nächsten Tag – Sonnenschein,
ein laues Lüftchen – unternahm ich
erneut den Versuch einer Expedition
durch Deutschland per Bahn. Ich kam
mir vor wie Alexander von Humboldt,
nur ohne Instrumente. Die App warnte
vor einer Verspätung von bis zu 15 Mi -
nuten, aber bald waren es 180 Minuten.
Auch ein Sturm, der vorüber ist, kann
der Bahn noch Überraschungen bieten.
Wieder wurde Wasser ausgegeben.
Hier ein Rat: Wenn die Bahn Wasser
ausgibt, nehmen Sie welches. Diese mil-
de lächelnden Wasserspender wissen
mehr, als sie sagen dürfen. Wasseraus-
gabe führt bald zum Stillstand des
Zuges und umgekehrt – ein empirisch
festzustellender, obschon nicht kausaler
Zusammenhang.
Wenn man nur genügend Stunden
damit verbringt, in die Nähe von Han-
nover vorzudringen, malt man es sich
bald wie ein irdisches Paradies aus –
die Luft voll schwerer Düfte und flirren-
der Verheißung. Na ja. Zwar sah es aus
wie auf der Hinfahrt, aber unterdessen
hatte eine süße Euphorie uns Reisende
erfasst. Alle Termine waren abgesagt,
nun schlug die Stunde der Kultur: dicke
Bücher, Serien, Gespräche – die Sys-
temstörung wurde zur Befreiung. Die
Bahn flüsterte ihr eigentliches Motto:
Reise doch erst mal zu dir selbst.

An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und
Elke Schmitter im Wechsel.

HOLLYWOOD PICTURE PRESS / ALL4PRICES
Anderson in »Baywatch«-Outfit 1995

PANDORA FILM
Szene aus »Gelobt sei Gott«
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