Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1
guckst du denn für Pornos?« – »Gar kei-
ne.« – »Alle gucken Pornos.«
Nun muss man nicht lange überlegen,
wer die sympathischere Figur in dieser Sze-
ne ist, die realistischere aber ist Hannah.
Jungs sind im Schnitt 13, wenn sie das erste
Mal einen Porno anschauen, Mädchen


  1. »Bei den meisten Jungs vergehen vier
    bis sechs Jahre zwischen dem ersten Porno
    und dem ersten Mal Sex«, sagt Henning.
    Wer früher ein progressives Aufklärungs-
    buch schrieb, der schrieb gegen Tabus und
    Verbote an, wer heute eins schreibt, der
    schreibt Pornos hinterher.
    Im Film mimt Aaron den Oberchecker,
    einen Möchtegernpornostar. Am Ende
    führt die erfahrene Ineke den unsicheren
    Maulhelden in die Liebe ein. »Wenn ein
    Mädchen Standing hat und ihren Körper
    kennt, wenn sie Ja und Nein sagen kann,
    dann kann auch der Junge sich entspan-
    nen«, sagt Henning. »Aaron mit einem un-
    sicheren Mädchen: Das wäre hingegen
    ganz schlecht. Denn dann macht er das,
    was er in seinen Pornos gesehen hat, und
    sie macht mit.«
    Henning beklagt, dass Mädchen nach
    wie vor oft zu Passivität und Bescheiden-
    heit erzogen würden, die Folge: Mädchen,
    die im Bett die Wünsche des Jungen leben,
    nicht ihre eigenen. »Pleaserinnen« nennt
    Henning sie. Es sind Mädchen, die sexuell
    sehr offen sind, aber nur pseudobefreit.
    Mädchen, »die fast alles mitmachen, um
    cool und entspannt zu wirken«. Sie wollen,
    was er will.
    Oft ist die Rede von der »Generation
    Porno«: jungen Menschen, die Jahre vor
    dem ersten Mal den ersten Gang Bang
    sehen. Die Sorge: Die Jugendlichen ver-
    wahrlosen sexuell, sie geben sich viel zu
    früh viel zu extremen Praktiken hin. Tat-
    sächlich aber haben viele deutsche Jugend-
    liche weniger Sex als früher, der Anteil der
    14- bis 17-Jährigen, die schon einmal hete-
    rosexuellen Geschlechtsverkehr hatten, ist
    von 2005 bis 2014 um mehr als fünf Pro-
    zent gesunken. Wie kann das sein?
    Hört man Henning zu, dann spricht
    manches dafür, dass die Sexualmoral lo-
    cker ist wie nie, aber die Scham größer
    denn je. Wobei es heute eher nicht mehr
    die Darstellung sexueller Praktiken ist, die
    Teenagern die Schamesröte ins Gesicht
    treibt, sondern der Gedanke an den eige-
    nen, unperfekten Körper.
    Man könnte sagen, Pornos animieren
    nicht, sie verschrecken.
    Henning streitet in ihrem Buch gegen
    die »genitale Ungerechtigkeit«, die dazu
    führe, dass viele Frauen ihre Vulva und
    ihre Vagina ungern anfassten, sich selbst
    »untenrum« hässlich fänden, muffig,
    schmutzig, eklig. Schon der Begriff
    Schamlippen: ein Skandal für Henning.
    »Stell dir vor, wie es wäre, wenn die Ho-
    den im täglichen Sprachgebrauch Scham-


beutel oder Schamsack heißen würden«,
schreibt sie und gibt einen Tipp: statt
Schamlippe »ab sofort und für immer«
Liebeslippe sagen.
Auch das Wort »untenrum«, das viele
Frauen sagen, wenn sie ihre Vulva meinen,
ist natürlich ein Problem. Kein Mann wür-
de »untenrum« sagen, wenn er über sei-
nen Penis spricht.
Und Vulva? Klingt sehr medizinisch,
mehr nach Frauenarzt als nach Sex.
Im Drehbuch zu »Get Lucky« stand
noch eine Szene, in der die Sexualberate-
rin Ellen zu den Mädchen sagt: »Ich weiß
im Unterschied zu euch, wie ich untenrum
aussehe.« Im fertigen Film heißt es: »Ich
weiß im Unterschied zu euch, wie meine
Muschi aussieht.« Die deutsche Sprache
ist nicht nett zu weiblichen Genitalien.
Henning, die eine Praxis für Paarthera-
pie in Hamburg betreibt, hat mal Neuro-
psychologie studiert, später eine Ausbil-
dung zur Sexologin gemacht. Gerade hat
sie noch einen Master draufgesattelt, der
Titel ihrer Abschlussarbeit: »Das genitale
Selbstbild der Frau«. Sie hat 1303 Frauen
befragt, welches Verhältnis diese zu ihrer
Vulva haben, die jüngste 16, die älteste


  1. Ein erschreckendes Ergebnis: je jünger
    die Frauen, desto schlechter das genitale
    Selbstbild.
    Henning sieht einen Grund darin, dass
    die Genitalien durch Netzpornos ins Ram-
    penlicht gerückt sind, oft operativ kor -
    rigiert oder bildbearbeitet. »Wenn keine
    realistischen Vergleiche vorhanden sind,
    bekommen Frauen das Gefühl, ihre Geni-
    talien seien abnormal.«
    Im Film gibt es ein abendliches Wett -
    wichsen der Jungs am Strand, während die
    Mädels am Lagerfeuer verschämt über
    Masturbation reden. »Wie eklig«, sagt Han-
    nah, »ich mach so was nicht.« Auch Frieda
    und Maja sind angewidert.


Echt jetzt? Ist das noch realistisch in
Deutschland 2019?
»Ja, das ist leider realistisch, immer
noch«, sagt Henning, auch wenn die Mäd-
chen aufholten. Die Hochschule Merse-
burg, an der sie ihre Masterarbeit geschrie-
ben hat, führt eine Langzeitstudie zum
Sexualverhalten von Jugendlichen durch.
1980 befriedigten sich 17 Prozent der Mäd-
chen selbst, 2013 schon 66 Prozent. Aber
bei den Jungs waren es 91 Prozent. »Die
Mädchen schämen sich noch immer für ihr
Genital, die Jungs eher nicht.«
Mädchen und Frauen haben häufiger
Orgasmusprobleme als Jungen und Män-
ner. Manche Feministinnen sprechen
inzwischen vom Orgasm Gap, angelehnt
an den Gender Pay Gap. Sie wünschen
sich – um im Bild zu bleiben – gleichen
Lohn für gleiche Arbeit.
Hennings Ansatz ist ein anderer, sie
stellt ihren Patientinnen einleitend meist
eine Frage: »Haben Sie schon Sex gehabt
mit einem Mann, der seinen Penis nicht
kannte?« Viele Patientinnen stutzten – und
sie schiebe die nächste Frage hinterher:
»Haben Sie schon Sex gehabt mit einem
Mann, der seinen Penis nicht mochte?« Vie-
le Patientinnen lachten. »Haben Sie schon
Sex gehabt mit einem Mann, der seinen
Penis eklig findet?« Bing, dann fällt der
Groschen. »Diese Frauen haben dauernd
Sex mit einem eigenen Genital, das sie
eklig finden. Ich habe noch nie eine Frau
mit Orgasmusproblemen in meiner Praxis
gehabt, die sich gern selbst anfasst.«
Wer ein positives genitales Selbstbild
hat, hat mehr sexuelle Begegnungen und
mehr Orgasmen, er ist sexuell selbstsiche-
rer und verhält sich seltener sexuell riskant.
»Wer seine Vulva nicht so gern mag, ten-
diert auch dazu, beim Sex eher an den an-
deren zu denken als an sich selbst«, sagt
Henning. »Wer sich wohlfühlt in seinem
Körper, sagt Nein, wenn er etwas nicht
will.« Und dann sagt sie einen Satz, der
dem Feminismus ganz neue Zielgruppen
erschließen dürfte: »Feminismus kann
auch sein, als Mann gut über den weib -
lichen Körper Bescheid zu wissen.«
Als Nächstes will Henning sich in einem
Buch mit Aufklärung für Eltern mit Babys
und Kleinkindern beschäftigen, die wich-
tigste Botschaft: Eltern sollten Mädchen
nicht daran hindern, sich genauso anzu-
fassen wie Jungen, etwa auf dem Wickel-
tisch. »Eltern, die ihrer Tochter ein gutes
Gefühl für ihr Genital geben, haben ihre
Tochter schon vor sonst was geschützt.«
Tobias Becker

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Kultur

GUNNAR MEYER
Autorin Henning
»Mädchen schämen sich noch immer«

Video
Ausschnitte aus
»Get Lucky«
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