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iemand plaudert in Deutschland
derzeit so entspannt über Sex wie
Ann-Marlene Henning, 54, eine ge-
bürtige Dänin. 2012 erschien ihr Bestseller
»Make Love«, ein Aufklärungsbuch für
Teenager, das sich hunderttausendfach ver-
kaufte. 2014 folgte »Make More Love«,
ein Aufklärungsbuch für Erwachsene. Man
könnte sagen, Henning ist Dr. Sommer
und Erika Berger in Personalunion.
Im Abendprogramm von MDR und
ZDF hat Henning lange eine Sexdoku
moderiert, nun ist sie das Vorbild für die
Frau, die Palina Rojinski in einem neuen
Kinofilm spielt: eine lockere, lustige Sex-
tante, die alle Teenagerhemmungen weg-
quatscht – eine Sexologin, die die Gene-
ration aufklärt, die schon alles weiß.
»Get Lucky« heißt der Film, frei über-
setzt: zum Schuss kommen. Wobei diese
Übersetzung einer sehr männlichen Auto-
renperspektive entspringt.
Wer 2019 ein Aufklärungsbuch schreibt
oder einen Aufklärungsfilm dreht, begibt
sich auf ein Terrain, auf dem er viel
falsch machen kann, vermutlich mehr
denn je. Die LGBTQ-Bewegung, die #Me-
Too-Debatte.
»Früher ging es um Faktenwissen«, sagt
Henning, »ein bisschen Biologie und Kon-
dome, Mann, Frau, Penis, sonst nichts.«
Heute geht es um emanzipatorische Auf-
klärung, und gleichzeitig geht es um Er-
ziehung zum Genuss. Ein Spagat. Sex mag
eine ernste Sache sein, aber Sex ist immer
auch Spaß und Spiel.
Henning hat das Filmteam beraten und
veröffentlicht zum Kinostart ein neues
Buch für Teenager, »Sex verändert alles«*.
Sie findet einen lockeren, oft lustigen Ton,
schreibt mal fantasievoll, mal direkt:
»Beim Blasen geht es ums Spüren und
nicht um einen Mundfick.« Ihre Leserin-
nen und Leser duzt sie: »Psychologen
schauen dir in den Kopf, Sexologen in die
Hose. Ich tue beides.« Und da sie ein Auf-
klärungsbuch fürs Jahr 2019 schreibt, heißt
ein Kapitel: »Sexuelles Selbst und Liebes-
ID«, der erste Satz: »Willkommen, Ladys
und Gentlemen und solche, die sich noch
nicht festlegen mögen.« Wer bist du, wer
willst du sein? Das sind Fragen, die sich
* Ann-Marlene Henning: »Sex verändert alles. Auf -
klärung für Fortgeschrittene«. Rowohlt; 264 Seiten;
20 Euro.
Kinostart von »Get Lucky« ist am 26. September.
vor zehn Jahren so deutlich noch nicht
gestellt hätten.
Für den Film hat Regisseurin Ziska Rie-
mann neben der Sexualberaterin Henning
auch eine Gender-Studies-Beraterin enga-
giert, die das Drehbuch auf Geschlechter -
klischees und diskriminierende Sprache
abgeklopft hat. »Der Film hat den An-
spruch, möglichst korrekt zu sein«, sagt
Riemann. »Sex ist ein Politikum.« Und
»Get Lucky« nun ein Aufklärungsfilm, für
den Sex nur das zweitwichtigste Thema
zu sein scheint, das wichtigste: Diversity.
Es gibt ein schwules Paar, und einer der
beiden ist schwarz; der sensible Feminist
heißt Mehmet; die Körper der Darsteller
und Darstellerinnen sind keine Hollywood-
schauspieler- und Hollywoodschauspiele-
rinnenkörper, erst recht keine Pornokörper,
es sind durchschnittlich trainierte Körper
durchschnittlich schlanker junger Men-
schen. Man könnte sagen, »Get Lucky« ist
eine Sexkomödie ohne Sexsymbol.
In einer Testvorführung hat Riemann
zwei Jungs belauscht, die nach der Oben-
ohne-Szene einer Schauspielerin lästerten:
»Wir stehen dann doch eher auf operierte
Titten.« »Genau deshalb«, sagt Riemann,
»ist so ein Film nötig.« Ein pädagogischer
Film, dem man seine pädagogischen Ab-
sichten manchmal etwas zu sehr anmerkt.
Ein hochanständiger Film über ein ver-
meintlich unanständiges Thema.
In einer Szene reckt Julia die Arme, da-
runter zwei Haarbüschel. »Iiieh!«, ruft
Hannah, »ist ja klar, dass du keinen ab-
kriegst.« – »Wieso?« – »Wie wieso? Was
128 DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019
Untenrum unfrei
SexualitätWelchen Einfluss haben Internetpornos
und #MeToo-Debatte auf das Sexleben
heutiger Teenager? Ein neues Buch und ein Kinofilm klären auf.
HANNES HUBACH / DCM FILMVERLEIH
»Get Lucky«-Darsteller Rojinski, Bjarne Meisel mit Plüschgenital: »Alle gucken Pornos«