Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1
Deutschland

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ner Wachsjacke und blauem Schal vor der
Kamera: »Wir haben noch kurz vor dem
Jahreswechsel hart gearbeitet. Die Pkw-
Maut kommt zum Oktober 2020«, sagte
Scheuer. »Das heißt, wir können Gerech-
tigkeit auf deutschen Straßen schaffen. Je-
der, der unsere Infrastruktur benutzt, der
zahlt auch, ohne Mehrbelastung für die
Inländer. Das ist eine gute Nachricht zum
Jahresende 2018.«
Zwei Wochen nach der Vertragsunter-
zeichnung, am 14. Januar 2019, erreichte
den Minister eine brisante Vorlage. Darin
wurden für ihn die Vertragsregelungen
zum anstehenden EuGH-Urteil aufge-
führt. Unter Punkt eins (»Möglichkeit der
Vertragsbeendigung«) hieß es: »Beim Ver-
trag Erhebung wären Kapsch und Eventim
hinsichtlich des ihnen durch die Kündi-
gung entgehenden Gewinns so zu stellen,
wie sie stünden, wenn der Vertrag bis zum
Ablauf seiner ordentlichen Laufzeit fort-
geführt worden wäre.« Es gehört zu den
offenen Fragen des Skandals, wann der
Verkehrsminister von dem großen finan-
ziellen Risiko seines Lieblingsprojekts er-
fahren hat. Erst jetzt, zwei Wochen nach
Vertragsabschluss, durch die Vorlage sei-
nes Mautteams? Zu einem Zeitpunkt also,
an dem nichts mehr zu ändern war? Oder
war Scheuer das Risiko der immensen
Schadensersatzzahlungen bereits vorher
klar. Und ging er es zum Wohle seiner Par-
tei bewusst ein? Das Verkehrsministerium
wollte sich nicht dazu äußern, wann
Scheuer von dem Risiko im Vertrag im
Falle eines negativen EuGH-Urteils erfah-
ren hat. Ein Sprecher erklärte auf Anfrage
lediglich, dass es »von Beginn des Ver -
gabeverfahrens an« im Verkehrsministe-
rium »einen regelmäßigen Austausch« ge-
geben habe.
Die Betreibergesellschaft Autoticket
machte sich nach der Vertragsunterzeich-
nung an die Arbeit. Kapsch und Eventim
sollten dafür sorgen, dass die deutschen
Pkw-Eigentümer fristgerecht über die
Höhe der Maut und die entsprechende
Kompensation bei der Kfz-Steuer infor-
miert würden. Kameras sollten an Maut-
brücken die Kennzeichen der vorbeifah-
renden Autos ablichten, alle deutschen
Kennzeichen löschen und bei den auslän-
dischen Fahrern überprüfen, ob sie be-
zahlt haben. Mit dem Ministerium war
eine »Feinplanungsdokumentation« ver-
abredet worden, eine Art Fahrplan zum
Aufbau des Systems.
Es lief nicht reibungslos, die Unterlagen,
die Autoticket einreichte, waren dürftig,
das Ministerium forderte Nachbesserun-
gen. Den Beamten machte auch eine
andere Sache zu schaffen. Die Kosten für
das Mautsystem stiegen und stiegen, vor
allem für das nötige Personal im KBA und
im Bundesamt für Güterverkehr. »Die
ursprünglich kalkulierten Kosten von jähr-

lagen legen nahe, dass man dafür Kosten
vor den Abgeordneten verstecken wollte.
Die Unterhändler einigten sich laut Teil-
nehmern darauf, die Portokosten für die
Briefe an die Halter der 47 Millionen deut-
schen Autos aus der Vergütung heraus -
zunehmen. Stattdessen sollten die Maut-
betreiber die Ausgaben später als »durch-
laufende Posten« dem Bund in Rechnung
stellen, wie schriftlich fixiert wurde.
Zudem ging das Ministerium davon aus,
dass im Laufe der Jahre immer mehr Be-
hördenschreiben digital zugestellt werden
können. Von bis zu 70 Prozent war die
Rede, eine unrealistisch hohe Annahme,
sagen Eingeweihte. Hunderte Millionen
Euro an Kosten für Druck, Versand und
Porto sollten auf diese Weise laut Insidern
eingespart werden.
Einen weiteren Trick, um das Vertrags -
volumen zu drücken, machten die Ver-
handlungsführer bei den 425 Zahlstellen
für die deutschen Autofahrer aus. Die Hal-
ter sollten stattdessen unter anderem in
Supermärkten bezahlen können.
Die Verhandlungsgruppe meldete am



  1. Dezember 2018 Erfolg: Der Bieter
    habe ein »zweites finales Angebot« vor-
    gelegt, heißt es in einer Vorlage für Staats-
    sekretär Schulz. »Die Angebotssumme für
    die reguläre Vertragslaufzeit exklusive op-
    tionaler Leistungen beträgt rd. 1,975 Mrd.
    Euro.« Der Vertragsunterzeichnung stand
    von jetzt an nichts mehr im Wege.


Am 30. Dezember 2018,einem Sonntag,
versammelte sich gut ein Dutzend Anwäl-
te, Manager und Beamte in einem Konfe-
renzraum einer Berliner Kanzlei, um die
Pkw-Maut endgültig zu besiegeln. Der
Chef des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA),
Ekhard Zinke, war extra aus Flensburg
nach Berlin gereist. Seine Behörde sollte
für die Erhebung der Maut zuständig sein.
Andreas Scheuer blieb der Beurkundung
fern, ebenso Schulenberg. Er überließ das
Treffen seinen Managern von der Betrei-
bergesellschaft
Um 11 Uhr, so berichten Teilnehmer des
Treffens, begann ein Notar damit, das Ver-
tragswerk vorzulesen, gut 2600 Seiten.
Währenddessen durften die Unterzeich-
ner nicht den Raum verlassen, noch nicht
mal um kurz auszutreten. Nur mittags gab
es eine kurze Pause, Suppe und kalte
Getränke wurden gereicht. Gegen 19 Uhr
war es so weit: KBA-Chef Zinke und zwei
Manager von Autoticket unterzeichneten
den »Vertrag über die Entwicklung, den
Aufbau und den Betrieb eines Systems für
die Erhebung der Infrastrukturabgabe«.
Es gab Sekt und ein Erinnerungsfoto,
dann fuhren alle nach Hause, am folgen-
den Tag war schließlich Silvester.
Kurz darauf stellte das Verkehrsminis-
terium ein Video ins Netz. Andreas Scheu-
er war darauf zu sehen. Er stand mit grü-


Mit Vollgas in die Sackgasse
Wie die CSU-Verkehrsminister bei der Einführung
einer Pkw-Maut versagt haben

Schadensersatzforderungen
möglicherweise
mehr als

Januar 2013 Die CSU präsentiert als Wahlkampf-
thema die Ausländermaut: eine Pkw-Maut auf Auto-
bahnen, die inländische Fahrer nicht belasten soll.


  1. Juli Die CSU macht eine Einführung der Pkw-
    Maut zur Bedingung für die Beteiligung an einer
    weiteren Regierungsbildung im Bund.


15./22. September Landtagswahl in Bayern und
Bundestagswahl. Neuer Bundesverkehrsminister:
Alexander Dobrindt (ab 17. Dezember)


  1. März 2015 Der Bundestag beschließt die
    Einführung der Pkw-Maut, die vom Bundesrat
    im Mai gebilligt wird.

  2. September 2017 Bundestagswahl. Neuer Ver-
    kehrsminister: Andreas Scheuer (ab März 2018)

  3. Oktober Österreich verklagt Deutschland vor
    dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), die Nieder-
    lande schließen sich der Klage später an.

  4. Juni 2019 Der EuGH erklärt die Mautpläne für
    europarechtswidrig. Scheuer erklärt die Maut für
    gescheitert und kündigt am nächsten Morgen den
    Vertrag. Ein Schiedsverfahren droht.

  5. Juni Erneutes Treffen zwischen Scheuer und
    Betreibervertretern im Verkehrsministerium

  6. Juli 2014 Dobrindt stellt das Konzept einer
    »Infrastrukturabgabe« vor: Die Kosten der
    Vignette sollen für inländische Fahrer über eine
    verringerte Kfz-Steuer kompensiert werden.

  7. September 2016
    Die EU-Kommission verklagt Deutschland.

  8. Dezember Berlin und Brüssel einigen sich
    auf einen Kompromiss.

  9. Februar 2018 Erste Verhandlungen mit CTS
    Eventim und Kapsch TrafficCom. Im Falle eines
    negativen EuGH-Urteils werden den Betreibern
    hohe Schadensersatzzahlungen versprochen.

  10. Oktober Das erste Angebot von Kapsch und
    Eventim beläuft sich auf rund 3 Mrd. € – gut
    eine Milliarde mehr, als der Bundestag bewilligt
    hatte. Die Bewilligung der Gelder gilt zudem nur
    bis Ende 2018.

  11. November Vertrauliches Treffen zur Lösung
    des Finanzierungsproblems zwischen Scheuer
    und Betreibervertretern im Verkehrsministerium,
    weitere »Aufklärungsgespräche« folgen.

  12. Dezember Als Ergebnis der Nachverhand-
    lungen wird ein zweites Angebot vorgelegt,
    das exakt dem Finanzrahmen entspricht.

  13. Dezember Vertragsunterzeichnung mit
    CTS Eventim und Kapsch TrafficCom in Berlin


Kosten
bis 18. Juni 53,6 Millionen Euro

zusätzlich
bis Ende 2020* 27,5 Millionen Euro
*Schätzung

500 Millionen Euro

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