Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

Z


u Beginn einer Sitzung, die un-
längst nicht im Reichstag, sondern
im benachbarten Paul-Löbe-Haus
stattfand, konnte sich Parlaments-
präsident Wolfgang Schäuble eine spitze
Bemerkung nicht verkneifen: »Als Paul
Löbe Alterspräsident des ersten Bundes-
tages war, hatte unser Parlament noch 410
Abgeordnete. Das war natürlich zu einer
anderen Zeit – aber mit Blick auf die im-
mer dringlichere Wahlrechtsreform ist es
an diesem Ort eine Erwähnung wert.«
Das Plenarprotokoll vermerkt an dieser
Stelle »Beifall bei der CDU/CSU, der FDP,
der Linken und dem Bündnis 90/Die Grü-
nen sowie bei Abgeordneten der SPD und
der AfD«.
Das ist bemerkenswert, weil die Abge-
ordneten unlängst bei dem Versuch ge-
scheitert sind, sich auf eine Reform des
Wahlrechts zu einigen: Eine von Schäuble
eingesetzte Arbeitsgruppe hatte die Bera-
tungen im April für gescheitert erklärt.
709 Mitglieder hat der aktuelle, vor
zwei Jahren gewählte Bundestag, 111 mehr,
als es nach dem Bundeswahlgesetz eigent-
lich sein sollen. Und nach der nächsten
Wahl könnten es, begünstigt durch die ak-
tuelle Zersplitterung der Parteienland-
schaft und das Aufkommen der AfD, sogar
mehr als 800 sein. Keine westliche Demo-
kratie hat derzeit ein größeres Parlament.
Der Etat für die Abgeordneten und ihren
Apparat ist auf 990 Millionen Euro im
Jahr angewachsen.
Nun schlägt eine Gruppe deutscher
Staatsrechtslehrer in einem offenen Brief
Alarm: Die »gewaltige Übergröße des Bun-
destags beeinträchtigt seine Funktionen
und bewirkt unnötige Zusatzkosten von
vielen Millionen Euro«, schreiben die 102
Professorinnen und Professoren für Ver-
fassungsrecht.
Zudem sei das Wahlrecht »derart kom-
pliziert geworden, dass kaum noch ein
Wähler versteht, was seine beiden Stim-
men letztlich bewirken«. Den politischen
Schaden halten die Verfasser des Appells
für gravierend: »Das Wahlrecht als wich-
tigste demokratische Äußerungsform«
habe inzwischen »einen geradezu ent -
demokratisierenden Effekt«.
Der Bundestag, so die Rechtsexperten,
»sollte das Bundeswahlgesetz unverzüglich
vereinfachen« und dafür sorgen, »dass die
Zahl der Abgeordneten bei der nächsten


Wahl auf die Normalgröße von 598 zu-
rückgeführt wird«.
Vielleicht wäre alles ganz anders gekom-
men, wenn am 5. September 2005 Kerstin
Bärbel Lorenz keinen Gehirnschlag erlit-
ten hätte. Die Direktkandidatin der NPD
im Wahlkreis Dresden I starb wenige Tage
vor der Bundestagswahl. In ihrem Wahl-
kreis musste deshalb zwei Wochen nach
dem eigentlichen Termin abgestimmt wer-
den. Schnell wurde klar, dass es aufgrund
der komplizierten Verrechnung von Erst-
und Zweitstimmen für die CDU günstiger
sein würde, bei dieser Nachwahl nicht zu
viele Zweitstimmen zu erzielen – um kein
Abgeordnetenmandat aus der regulären
Wahl zu verlieren.

Das trat zwar nicht ein – doch das
Nachdenken darüber hatte Folgen: Das
Bundesverfassungsgericht erklärte 2008
das damalige Bundestagswahlrecht für
grundgesetzwidrig, ebenso wie 2012 eine
Neuregelung. Bis zur nächsten Wahl blieb
nur noch wenig Zeit, und in der Eile war
es der Parlamentsmehrheit in Berlin am
wichtigsten, die Vorgaben aus Karlsruhe
zu erfüllen. Der Nachteil des seither gel-
tenden Gesetzes ist allerdings, dass sich
der Bundestag um hundert oder noch
mehr Mitglieder vergrößern kann (siehe
Grafik).
Seit 2013 gilt, dass die sogenannten
Überhangmandate ausgeglichen werden
müssen. Ein Überhangmandat entsteht,
wenn eine Partei in einem Bundesland vie-
le Wahlkreise gewinnt, aber bei den Zweit-
stimmen nicht ganz so gut abschneidet.
Dadurch erobert sie mehr Mandate, als
ihr prozentual zustehen.
Die neu geschaffenen Ausgleichsman-
date sorgen dafür, dass die anderen Partei-
en zusätzliche Sitze bekommen, sodass
die Anzahl aller Abgeordneten wieder
dem Prozentsatz der Zweitstimmen ent-
spricht. Das größte Risiko stellt dabei
die CSU dar, weil sie nur in Bayern an -
tritt. Nach Berechnungen des Friedrichs-

hafener Politologen und Wahlrechts -
forschers Joachim Behnke ist es möglich,
dass für jedes CSU-Überhangmandat die
übrigen Parteien 15 bis 20 Ausgleichssitze
bekommen müssen.
Dass die traditionellen Volksparteien
schrumpfen, führt zur Vergrößerung des
Bundestags. Zu sehen ist das bisher vor al-
lem bei CDU und CSU: Sie erobern wei-
terhin viele Wahlkreise, schwächeln aber
bei den Zweitstimmen.
2017 gab es 46 Überhangmandate: Für
die CDU 36, die CSU sieben, die SPD drei.
Nach der gesetzlichen Arithmetik mussten
die Überhänge der Union ausgeglichen
werden – das bescherte den anderen Par-
teien insgesamt 65 weitere Mandate.
Wahlrechtsfragen sind Machtfragen –
und ohne Nachteile für manche Parteien
lässt sich keine Reform umsetzen. Modelle
gibt es reichlich, jedes ist auf seine Weise
kompliziert. Aber ohne Mathematik und
etwas Gedankenakrobatik ist die Grund-
lage der parlamentarischen Demokratie
nicht zu haben.
Schon in der vorangegangenen Legisla-
turperiode hatte Schäubles Vorgänger Nor-
bert Lammert einen Versuch unternom-
men, das Wahlrecht zu reformieren. Der
CDU-Politiker wollte die Zahl der Abge-
ordneten schlicht auf 630 beschränken.
Nur bis zu dieser Zahl sollten Überhang-
mandate ausgeglichen werden.
Lammerts Parteifreunde hätten mit
dieser Idee leben können, alle anderen
nicht. Denn die Union, die 2017 mehr als
drei Viertel aller Wahlkreise direkt ge-
wonnen hatte, würde von einem unvoll-
ständigen Ausgleich am stärksten profi-
tieren. Schon damals deutete sich eine
Konstellation an, an der sich bis heute
wenig geändert hat: Bei den meisten
Vorschlägen stehen CDU und CSU gegen
die übrigen Parteien.
Im nächsten Anlauf schlug der neue Par-
lamentspräsident Schäuble vor, die Anzahl
der Wahlkreise von 299 auf 270 zu verrin-
gern und bis zu 15 Überhangmandate
ohne Ausgleich zu lassen. Aber das passte
selbst seinen eigenen Parteifreunden nicht,
die an ihren vielen Direktmandaten hän-
gen. »Ohne die Union wäre die Einigung
auf eine Reform sicher möglich«, sagt der
FDP-Rechtsexperte Stefan Ruppert. Im-
merhin wollen Vertreter aller Parteien in
den nächsten Wochen einen Versuch un-

DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019

Deutschland

Full House


BundestagDeutschland hat zu viele Abgeordnete, daher fordern Staatsrechtler


eine Reform. Die Schrumpfkur finden nicht alle gut.


46

»Kaum noch ein
Wähler versteht, was
seine beiden
Stimmen bewirken.«
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