Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019 63


A


lvin Kennard betrat den Gerichtssaal in Bessemer, Ala-
bama, in Handschellen – als wäre er immer noch eine
Gefahr für die Allgemeinheit, als stünde zu befürchten,
dass er im nächsten Moment die Beherrschung verliert und
auf den Richter losgeht oder auf den Staatsanwalt, auf Wärter
oder Zuschauer.
Dabei war nichts unwahrscheinlicher. Kennard hatte lange
auf diesen Tag gewartet, er würde die Chance auf Freiheit
nicht durch eine unbedachte Handlung zunichtemachen.
Ruhig ging er nach vorn, setzte sich neben seine Vertei -
digerin und wartete, in der rot-weißen Kluft der Häftlinge,
sichtlich nervös. Vielleicht würde
er bald ein freier Mann sein. Und
wenn nicht? Dann würde Alvin
Kennard, mittlerweile 58 Jahre
alt, wohl zurückkehren an jenen
Ort, der 36 lange Jahre sein Zu-
hause war: das Donaldson-Hoch-
sicherheitsgefängnis im Jefferson
County.
Das Gefängnis liegt am Ende
einer Straße namens Warrior
Lane: eine Besserungsanstalt,
das ist die Idee. Aber dort, hinter
hohen Mauern, werden Häftlin-
ge von Häftlingen vergewaltigt
und ermordet, Waffen und Dro-
gen sind leicht zu beschaffen,
Wärter dulden den Schmuggel
oder unterstützen ihn, weil sie
davon profitieren. Das ist der Be-
fund der Justizbehörden von
Alabama, zusammengefasst im
April dieses Jahres in einem Be-
richt, der den Alltag im Donald-
son und zehn weiteren Gefäng-
nissen beschreibt.
Kennard war wegen eines Überfalls dort gelandet. Im
Alter von 22 Jahren hatte er zusammen mit einem weiteren
Mann eine Bäckerei betreten, bewaffnet mit einem Taschen-
messer. Wenige Minuten später verließ er den Laden, seine
Beute betrug 50 Dollar und 75 Cent. Verletzt wurde dabei
niemand, so schildert es seine Verteidigerin Carla Crowder
am Telefon.
Nicht lange nach dem Überfall wurde Kennard gefasst.
Alabama liegt im Süden der USA; dass Kennard dunkle Haut
hat, verbesserte seine Chancen nicht. Weil er sich zuvor
wegen dreier Straftaten, begangen bei einem Einbruch, vor
Gericht hatte verantworten müssen, wurde er zu lebenslanger
Haft verurteilt.
Grundlage war der Habitual Felony Offender Act, ein Ge-
setz, das unter dem Motto »Three Strikes and you’re out«
bekannt geworden ist. Es beruht auf der Überzeugung, dass
Wegsperren besser sei als der Versuch einer Wiederein -
gliederung.

Carla Crowder bezweifelt, dass Einrichtungen wie das
Donaldson als Besserungsanstalt funktionieren. Sie arbeitet
im Alabama Appleseed Center for Law and Justice, einer
Nichtregierungsorganisation, deren Mitglieder es sich zum
Ziel gesetzt haben, das Justizsystem der USA zu refor -
mieren.
Alvin Kennard traf sie das erste Mal im Frühjahr. Ein Rich-
ter hatte die beiden zusammengebracht, sein Name ist David
Carpenter, und auch wenn Carpenter sich öffentlich nicht
zum Justizsystem äußert, kann man davon ausgehen, dass
er die Kritik von Crowder in einigen Punkten teilt. Er war
durch einen Brief auf die Strafe aufmerksam geworden, die
Kennard zu verbüßen hatte. Er besorgte sich die Akten.
Während eines Besuchs im Gefängnis erklärte Crowder
ihrem Mandanten das Verfahren. Der Richter würde den Pro-
zess neu verhandeln, es sei offen, wie er ausgehe. Möglicher-
weise würde Kennard der Rest seiner Strafe erlassen werden,
ebenso sei es möglich, dass er im Donaldson bleibe. Mög-
lichkeit Nummer drei: Er würde in ein anderes Gefängnis
verlegt werden, in eines mit geringerer Sicherheitsstufe.
Kennard war von der dritten Möglichkeit nicht begeistert.
Er befürchtete, dass die Zustände in einem Gefängnis mit
geringerer Sicherheitsstufe noch
chaotischer sein könnten als im
Donaldson, weil dort noch weni-
ger Wärter beschäftigt seien. Für
Crowder ein weiterer Beweis für
die Dysfunktionalität des Justiz-
systems von Alabama: »Es ist
doch absurd, dass jemand be-
fürchtet, in eine Haftanstalt mit
weniger Restriktionen verlegt zu
werden, weil dort mehr Miss-
brauch droht.«
Dabei ist mehr Missbrauch
schwer vorstellbar. Bei einer
Razzia im Donaldson, durchge-
führt im Juli von ein paar Hun-
dertschaften der Polizei, wurden
26 Handys, 120 Gramm Drogen
und mehr als 110 Liter Alkohol
konfisziert. Und rund 500 selbst
gebaute Waffen.
Das Donaldson, so lautet das
Argument von Aktivisten wie
Crowder, ist kein Ort, an dem
Kriminelle auf ein Leben in Frei-
heit vorbereitet werden. Stattdes-
sen lernen sie dort, dass nur Gewalt Probleme löst, zumindest
für eine Weile.
Alvin Kennard ist ein zurückhaltender, schmaler Mann.
Während der Verhandlung, die von Kameras gefilmt wurde,
wirkte er zerbrechlich. Dass er überhaupt 36 Jahre lang in
diesem Gefängnis überstand, ist wohl am ehesten seinem
Glauben zu verdanken. Kennard ist überzeugter Christ, Gott
hat einen Plan für jeden Menschen, davon ist Kennard über-
zeugt.
Sein Glaube hat auch dazu beigetragen, dass er in den ver-
gangenen 15 Jahren nicht auffällig wurde. Er führte sich so
gut, dass ihm der Umzug in den Schlafsaal der Gläubigen ge-
stattet wurde, einen Trakt innerhalb des Gefängnisses, der
deutlich sicherer und zivilisierter ist als der Rest der Anstalt.
Ende August verfügte Richter David Carpenter, dass Alvin
Kennard zu entlassen sei. Kennards erster Weg führte zu
seiner Familie, danach ging er in die Kirche. Seine Anwältin
sagt, dass er keinen Groll in sich trage. Uwe Buse

Schuld und Sühne


Wie ein Kleinkrimineller in den USA 36 Jahre in
einem Hochsicherheitsgefängnis überstand

Eine Meldung und ihre Geschichte

Aus der »New York Times«

Kennard
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