Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1
Eine Wiederbegegnung also und zu-
gleich eine Suche. Was erfährt man über
Deutschland, wenn man den Menschen
zuhört?

Deutschlandflagge
Frau Bröhan sieht noch aus wie früher, nur
der Mann ist neu. An der Klingel steht
jetzt: Bröhan-Krauel. Heino Krauel ist
Lkw-Fahrer, wie Uwe es war, der an einem
Hirntumor starb, mit 49 Jahren.
Sabine Bröhan hat das Haus allein wei-
terverputzt und zugesehen, dass die Kinder
gut groß werden. Lennard war 4 Jahre alt
damals, sein kleiner Trecker parkte vor
dem Haus, heute ist er 18 und Jungschüt-
zenkönig.
Neben der Eiche auf dem Hof in Ovel-
gönne, einem Ortsteil von Buxtehude,
ragen zwei Flaggenmasten in den Himmel,
ausrangiert von Ikea. Sabine und Heino
hängen die Niedersachsenflagge daran
und manchmal eine Deutschlandflagge.
Uwe Bröhan hatte häufig gelächelt da-
mals, seine Freundlichkeit hatte einen Ton
für die Reise gesetzt. Die Bröhans hatten
sich an die Staus auf der Bundesstraße
gewöhnt und irgendwann auch an den
Lärm, sie hatten ihre Auffahrt verlegt, we-
gen der B 3, sie konnten jetzt nach Buxte-
hude laufen, ohne die Straße überqueren
zu müssen.
Heute sitzt Heino Krauel am Tisch unter
der Markise und sagt, die Flüchtlinge soll-
ten zurück in ihre Heimat und an zwei Fü-
ßen an einem Baum aufgehängt werden.
Frau Bröhan nickt dazu. Sie ist nicht
zerbrochen am Tod ihres Mannes, aber
der Schicksalsschlag hat sie fügsam ge-
macht. »Die Flüchtlinge greifen Frauen
an«, sagt Heino Krauel, der Neue.
Angela Merkel war 2005 angetreten,
um das Vertrauen der Menschen in die
Politik zurückzugewinnen. Zumindest die-
ses Vorhaben kann als gescheitert gelten.
Ihr Satz »Wir schaffen das« war mutig und
überforderte viele.
Merkel hat Deutschland nüchtern und
pragmatisch regiert. Die Steuereinnahmen
sind gestiegen, die Arbeitslosigkeit ist hal-
biert, die Staatsverschuldung ist im Ver-
hältnis zum Bruttoinlandsprodukt gesun-
ken, die Renten sind in den vergangenen
Jahren gestiegen.
Und dennoch: Das Deutschland, das sie
hinterlässt, ist erfolgreich und matt zu-
gleich, respektiert und trotzdem ratlos.
Merkels abwägender, konfliktscheuer
Regierungsstil hat die Menschen unter
Stress gesetzt. Der eine versinkt in Arbeit,
andere sind wütend und wissen nicht,
worauf.

Das Schloss
Die Schlagzeilen in diesen Tagen sprechen
von lahmender Konjunktur, von fehlender
Aufbruchstimmung und von Mangel an

Noch einmal habe ich mich auf die Reise
gemacht, der Fotograf Sven Döhring hat
mich begleitet: dieselbe Strecke, durch Nie-
dersachsen, Hessen und Baden-Württem-
berg, durch Alleen und Weinanbaugebiete,
Dörfer und Kleinstädte, vorbei an Hanno-
ver und Göttingen, Marburg und Frankfurt
am Main.
Im Wahlkampf 2005 hatte Angela Mer-
kel versprochen, das Vertrauen der Deut-


schen in die Politik zurückzugewinnen.
Heute, 14 Jahre später, wirft man ihr vor,
zu stur, zu still, zu sachlich zu sein, das
Land nicht zu gestalten, sondern nur zu
verwalten.
Merkel, heißt es, höre den Menschen
nicht zu. Was wird von ihr bleiben? Wel-
che Spuren hinterlässt ihre Kanzlerschaft
in den Wohnzimmern der Bürger, in ihren
Gedanken?

Ovelgönne, Niedersachsen
Sabine Bröhan und Heino Krauel
an ihrem Flaggenmast

Fotos: Sven Döring für den SPIEGEL^65

Free download pdf