Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1
und »wir hier unten« zusammensetzt, ein
tragfähiges Fundament.
Also sucht Brinken weiter Personal, seit
einem halben Jahr, in drei Zeitungen. 2004
lag die Arbeitslosenquote bei 10,5 Prozent,
sie hat sich seitdem halbiert.
We ite r.
Wo früher in Edesheim die »Ex-Po«-
Bar mit Tabledance war, sitzt jetzt ein Jor-
danier vor dem leeren Haus auf einer
Bank bei Dosenfisch. Er habe die Bar ge-
kauft, sagt er, weil er eine Zimmervermie-
tung daraus machen wollte. Das Bauamt
hatte dann etwas dagegen, er renoviert
jetzt erst einmal weiter.
»LOVE« steht noch in goldenen Buch-
staben an der Disco-Tür.

Knollenbegonie
Hinter Göttingen kriegt die B 3 langsam
Kurven. Bei Ernst Benary Samenzucht in
Hann. Münden hatte Annette Schumann
auf dem Feld gestanden, Marketingexper-
tin für Zierpflanzen im »Stauden-, Beet-
und Balkonbereich«. 2000 Produkte führ-
ten sie, hatte sie damals erklärt, sie habe
alle auswendig gelernt.
Annette Schumann wurde abgelöst von
Gundula Wagner, die aus der Automobil-
branche ins Samengeschäft gewechselt ist.
2004 war die Knollenbegonie Nonstop der
Renner.
Heute, sagt Gundula Wagner, seien es
die Big Begonia und der Ptilotus Joey, ein
australischer Federbusch. Die wichtigsten

Eigenschaften einer Bestsellerblume: To-
leranz, verlässliches Wachstum, Blüten am
besten von Mai bis Oktober, ein Alleskön-
ner. Bowls sind das Stichwort oder Instant-
Blumen zum Mitnehmen, schon im Kübel,
»auf die Terrasse, fertig«, sagt Wagner.
»Beet- und Balkonpflanzen haben zuge-
legt, Schnittblumen sind zurückgegangen«,
sagt sie. »Rückzug ins Private.«
Und noch etwas erzählt Wagner über
Deutschland. Die Saisonkräfte auf den Pro-
befeldern, auf denen das Unternehmen
die Samen testet, sind nicht mehr auswär-
tige Helfer, sondern alleinerziehende Müt-
ter aus der Region.
»Die finden sonst schwer was. Bei uns
können sie sich ihre Arbeitszeit flexibel
einteilen.«

Gewinner
Fachwerk, Häuser am Hang, unten fließen
Werra und Fulda in die Weser zusammen.
20 Kilometer bis Kassel, und da ist noch
der Waschsalon, wie damals.
An der Wand hängt noch immer das Te-
lefon mit Münzeinwurf, aber es klingelt
nicht mehr. Es gibt WLAN im Waschsalon
und einen Fernseher an der Wand mit Eu-
ronews-Nachrichten.
Mario Hauck, 42 inzwischen, war auch
2004 schon Chef des Waschsalons. Immer
weniger Leute kämen zum Waschen zu
ihm, hatte er damals geklagt. Die Mieten
in Kassel seien zu hoch, die Nebenkosten
ebenfalls, viele Menschen zögen aufs Land,

DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019 67


weiter nur. Für Brinken war es das Nichtrau-
chergesetz 2007, das seinen Laden leerte.
Da nützt es nichts, dass Frau Brinken
jeden Tag frische Blumen auf die Tische
stellt. Am Angebot von Kiosk und Imbiss
hat sich wenig geändert: Mettbrötchen,
Bockwurst, Bratwurst, Frikadellen, Tasse
Filterkaffee. Schnell und günstig auf die
Hand, das ist eine deutsche Konstante.
Die Brinkens haben eine neue Terrasse
gebaut, seitlich neben Kiosk und Imbiss,
haben Kiefernholz geschreddert und aus-
gelegt, was gut riecht und beruhigend
wirkt, dazu haben sie Bambustöpfe aufge-
stellt. Der Junior führt herum. Peter Brin-
ken, damals 24, inzwischen 39.
»Mach mal Psychologe!«, sagen Gäste
zu ihm, »mach mal Heilpraktiker!« Der
Bambusgarten der Brinkens ist mitunter
so etwas wie die Therapieecke der B 3, ein
Stammtischersatz im Freien.
Deswegen ging das auch mit der Flücht-
lingsfrau nicht. Peter Brinken hatte sie ein-
gestellt, sie war aus dem Irak gekommen,
aber ihr Deutsch war nicht gut genug. Wenn
der Deutsche sich in die Fremde aufmacht,
sagt Brinken, will er verstanden werden.
Die Menschen wollen etwas, das gute
Konjunkturdaten allein ihnen nicht geben
können: das Gefühl, wahrgenommen zu
werden. Etwas wert zu sein. Gebraucht zu
werden. Deshalb vor allem ist ein Früh-
schoppen oder ein Stammtisch für ein
Dorf unverzichtbar: Er gibt dem Gemein-
schaftsgefühl, das sich aus »die da oben«


Hann. Münden, Niedersachsen
Iris M’Kademi, Teamleiterin Zucht, im Begonienfeld

Kassel, Hessen
Julian Sobanski (rechts) mit seinem
Kumpel Nico vor dem Waschsalon
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