Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Stationsvorsteher, seine Enkelin Ilaria Lehrerin an einer weiterführenden
Schule, dazwischen der strahlende Auf- und Abstieg des Attilio Profeti. Von
der Staatsanstellung zum Wohlstand und zurück in nur drei Generationen.
Ilaria hat keine Kinder, das Risiko wäre hoch. Die Nachfolgegeneration stürzt
ab, vielleicht landet sie tiefer, als ihre Großeltern begonnen haben. Für eine
alleinstehende oder in ein paar Jahren pensionierte Lehrerin einer staatlichen
Schule – wenn es dann überhaupt noch eine staatliche Rente geben sollte – ist
diese Wohnung ein Schutzwall. Eine Festung, die ihr Leben vor dem
Hochwasser der Armut beschützt, das bei Deichbruch immer höher steigt und
nie mehr sinkt.
»Du wirst dich doch auch gefragt haben«, hat Marella zu ihr gesagt, »wo
das ganze Geld herkommt.« Nein, in Wahrheit hatte Ilaria sich das nie
gefragt. Sie hat diese sechzig Quadratmeter auf dem höchsten Hügel Roms
einfach genommen und fertig. Hat sie genommen wie alles andere, das ihr
Vater stets für sie aus der Tasche gezogen hat: Schecks, Kleingeld, Bonbons,
eine Wohnung auf dem Esquilin.
Seit heute weiß Ilaria, dass sie, obwohl sie sich ihr Leben lang für ehrlich
und aufrichtig gehalten hat, Schmiergelder genommen hat. Und seit über
zwanzig Jahren damit lebt. Dass sie das erst jetzt begriffen hat, liegt daran,
dass sie bisher nie danach gefragt hat.
›Wer die Wahrheit nicht wissen will, macht sich zum Komplizen, und das
widert mich an.‹ Sie hätte nie gedacht, dass dieser Satz, den sie mit sechzehn
gesagt hat, eines Tages auf sie selbst zutreffen würde. Mademoiselle
Robespierre, mit ihrer klaren Trennlinie zwischen richtig und falsch, solange
sie noch nicht wusste, was sie jetzt allmählich zu begreifen beginnt. Der Duft
des Privilegs ist wie der Gestank der Armut – so viel du deine Hände auch
wäschst, du wirst ihn nicht los.
berli17

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