Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Menschenstrom eine wahre Flut gemacht, die sich in langen Reihen zu
beiden Seiten der Straße in die Stadt ergoss. Ganze Familien, Frauen mit
Bündeln auf dem Kopf, Männer, denen der Hunger alles genommen hatte
außer ihrer Autorität als Familienoberhaupt. Sie schützten Kopf und
Schultern vor der nächtlichen Kälte auf zweitausend Metern Höhe mit
Tüchern, Decken, Schleiern, Lumpen, Handtüchern – und liefen. Alle liefen.
Seit ich abgereist bin, haben sie nicht aufgehört zu laufen.
Auf der Bole Road kreuzten zahlreiche Militärlastwagen mit offener
Ladefläche ihren Weg. Sie rumpelten über den löchrigen Asphalt, die jungen
Soldaten hinten stießen mit ihren Köpfen zusammen, während sie mit
aufgerissenen Augen dem Krieg gegen Eritrea in die Arme fuhren. Die
Privatautos befanden sich in unterschiedlichen Zuständen der
Altersschwäche: alte VW-Käfer, Fiat 500 s mit zerrissenem Verdeck, sogar
ein uralter Fiat Belvedere mit Holzverkleidung. Nur den diplomatischen
Vertretungen und internationalen Organisationen war es erlaubt, neue Wagen
einzuführen, wie die drei Giuliettas von Alfa Romeo, mit denen der
italienische Botschafter die Delegation abgeholt hatte. Manchmal begegneten
sie einem khakifarbenen Toyota, der jegliches Hindernis missachtete in dem
sicheren Wissen, dass es sowieso von sich aus weichen würde. Passanten
sprangen beiseite und senkten schnell die Augen – dem Bick eines
diensthabenden Polizeioffiziers wollte niemand begegnen. Die Fahrzeuge, die
am meisten Angst einjagten, waren allerdings nicht die mit der Militärfarbe
oder den Spezialeinheiten. Sie waren weniger zerbeult als die der Privatleute,
weniger luxuriös als die der Ausländer und nur an dem fehlenden
Nummernschild zu erkennen. Es waren die Wagen der Zivilbeamten des
Derg. Die Männer in den Autos hatten bei der Stasi in Ostdeutschland die
guten alten Verhörtechniken auf Basis von Elektroden, brennenden
Zigaretten und Zangen gelernt sowie andere Methoden, die eher der
äthiopischen Kultur entsprachen wie das wofelala – das »Zwitschern der
Peitsche« auf Anus und Testikel des an Händen, Hals und Füßen gefesselten
Gefangenen. Wenn sie vorbeifuhren, sprangen die Leute so eilig an den
Straßenrand, dass sie in den offenen Gräben der Kanalisation landeten.
Obwohl es früh am Morgen war, sah Attilio keine Leichen am
Straßenrand, Frauen mit Messern in der Vagina, Männer mit den eigenen
Eingeweiden auf dem Gesicht. Bis vor ein paar Jahren hatte jeder neue Tag in
Addis Abeba auf diese Weise begonnen, mit dem gemarterten Fleisch der

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