Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Äthiopien wollte. Natürlich verschwieg Attilio ihm den wahren Grund. Um
Casati zu überzeugen, nutzte er dasselbe Argument, mit dem er eingestellt
worden war: sein großes Glück, das er immer hatte, oder anders formuliert,
sein »Riesenschwein«. Eventuell würde die italienische Delegation davon
eine gehörige Portion brauchen, sagte er, bei den Verhandlungen mit einem
Regime, das eine unübersehbare Zahl Oppositioneller ausgelöscht hatte.
Casati ließ sich überzeugen, und Attilio durfte fahren.
»Addis«, murmelte Attilio mit Blick auf die Stadt, sein Gesicht wenige
Zentimeter von der großen Fensterscheibe entfernt. Ein feiner Atemhauch
erschien auf dem von der Klimaanlage gekühlten Glas.
Wo es wohl war, irgendwo unter diesen Blechdächern, zwischen den
hässlichen Zementbauten, die direkt nach Fertigstellung wieder zerfallen, den
Yucca-Wäldchen und imperialen Palästen, das Gefängnis, in dem sein Sohn
saß.
»Abeba.«
Die zwei Labiallaute knallten, obwohl er sie flüsterte, und trösteten ihn
irgendwie. Doch er vermied es, nach Osten in Richtung Lideta zu schauen.
Nachdem er geduscht hatte, begab sich Attilio ins Erdgeschoss. Dort
schloss er sich den anderen offiziellen ausländischen Delegationen an, den
Vertretern der Hilfsorganisationen, Informanten, Spionen des Regimes, den
Nutten mit den feingliedrigen Händen und vor allem den vielen Journalisten,
die es kaum erwarten konnten, über eine biblische Plage wie diese
Hungersnot berichten zu dürfen (»und das im zwanzigsten Jahrhundert!«),
die alle im Garten neben dem Pool inmitten von üppigen Jakaranden, Palmen
und Zierbananen beim Frühstück saßen. Amerikanisches oder kontinentales
Frühstück.
Der Hunger in Äthiopien hatte ein Land in den Mittelpunkt der Erde
gerückt, dessen geographische Lage, wenn nicht sogar Existenz die meisten
Menschen bis dahin ignoriert hatten. Nun eilten die berühmtesten Fotografen
herbei, um mit tragischen Bildern, perfekt in Szene gesetzt, das Ausmaß der
Katastrophe festzuhalten: verdurstende Kinder, abgemagert zu dürren
Ästchen, Mütter mit leeren Brüsten und erloschenem Blick, vorübertrottende
skelettartige Tierherden in Staubwolken. Gestalten mit gesenkten Köpfen, in
Schleier gehüllt wie neoklassizistische Statuen, nackte Leichen, deren
Knochen und Sehnen mit der Präzision anatomischer Renaissance-
Darstellungen hervortraten. Diese Bilder flößten Mitleid ein, in symbolischer,

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