Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

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»Papà, hast du im Krieg mal einen umgebracht?«
»Ja, einmal.«
»Wen?«
»Ein Schaf.«
»Ein feindliches Schaf?«
»Nein, eins von den unseren. Aber es lahmte und hatte große
Schmerzen.«
»Und warum lahmte es?«
»Es hatte sich bei einem Fallschirmsprung verletzt. Es war ein sehr
mutiges Schaf.«
Wie hatte Ilaria es als Kind geliebt, ihren Vater mit Fragen zu löchern,
wenn er abends an ihrem Bettchen saß und den Halbschatten mit Wärme und
Fröhlichkeit füllte. Weil sie das einzige Mädchen war, hatte sie immer das
Privileg eines eigenen Zimmers genossen. Ihre älteren Brüder mussten sich
eines teilen, bis die Karriere und das steigende Gehalt es Attilio Profeti
erlaubten, endlich eine herrschaftliche Wohnung zu kaufen, wie Marella es
sich immer gewünscht hatte.
Doch Ilaria war nicht die Einzige, die diese Momente allein mit ihrem
Papà genoss. Wenn Attilio nicht an allen Werktagen abends bei Anita
vorbeifuhr, lag das nicht nur an den fehlenden Vorwänden gegenüber seiner
Frau Marella, die ohnehin nicht die Absicht zu haben schien, sich zu viele
Fragen über den außergewöhnlichen Terminkalender ihres Mannes zu stellen.
Es hing auch mit dem Wunsch zusammen, mehr Zeit mit seiner Tochter zu
verbringen, die er sonst nur kurz am Morgen oder schlafend sah.
Das Fallschirmspringerschaf wurde zum Helden vieler Geschichten, die
Attilio ihr erzählte: seine verwegenen Taten hinter der Frontlinie, seine
Fähigkeit, sich heimlich unter die feindlichen Herden zu schmuggeln, mit
einer List ihre Pläne herauszufinden. Bei seinen Spionagetouren verkleidete
es sich oft als schwarzes oder geschecktes Schaf – in den Farben des
Feindes –, aber eigentlich war es weiß, schneeweiß. Attilio ahmte für Ilaria

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