Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

zerknautscht an ihren Füßen, weggetreten in der nächtlichen Wärme. Durch
das Fenster trägt die abgekühlte Luft des frühen Morgens die Geräusche des
ewigen Kampfes zwischen Möwen und Krähen um die Kontrolle des
Luftraums herein. Kein Geruch nach Frittiertem aus dem Schlafsaal im ersten
Stock, das ist merkwürdig. Um diese Uhrzeit sind die Bangladescher
normalerweise mit Kochen beschäftigt.
»Könntest du es vielleicht deiner Mutter sagen?«, hatte der Vater die
sechzehnjährige Ilaria gefragt, und in diesem Moment hatte eine einfache und
katastrophale Erkenntnis sie gepackt: Er und sie hatten schon immer
verschiedene Universen bewohnt. In dem einen, dessen stille Triebfeder Ilaria
war, gab es drei Kinder und eine Frau; in dem anderen, dem von Attilio
Profeti, gab es vier Kinder (also fünf, was sie aber erst vor zwei Tagen
entdeckt hat) und zwei Frauen (also drei, wenn man die unbekannte
Afrikanerin mitrechnet). Und diese unversöhnliche Zentralität des jeweils
eigenen Standpunktes, die sie an jenem Tag entdeckt hatte, war die
Grundbedingung der Existenz aller. Nicht nur der Menschen, die sich wie
Attilio Profeti in sich selbst verbarrikadierten, sondern auch derjenigen, die in
der Lage waren, ernsthaftes Interesse an anderen zu entwickeln (und solche
Leute gibt es, Ilaria hat zum Glück einige kennengelernt).
Und das galt folglich auch für alle ihre Schulkameraden, die sie
anstarrten, als sie in ihrer Bank stille Tränen vergoss, aufgewühlt von dem
gerade geführten Gespräch (»Ich denke überhaupt nicht daran, das musst du
schon selbst machen«, hatte sie ihm geantwortet), auch für die Philosophie-
Lehrerin, streng, aber gerecht, die sie mit Lavinia zum Ausheulen auf den
Flur geschickt hatte. Denn für jeden Menschen ist die Wirklichkeit, in der er
lebt, nicht dieselbe, egal wie kompatibel sie mit der der anderen ist. Sie wird
nicht nur von jedem anders erlebt, anders beurteilt und anders interpretiert –
sie ist eine andere. Jeder hat sein eigenes Zentrum, an der Stelle zwischen den
eigenen Augen, der eigenen Nasenwurzel, und das gilt für jeden, auch für die
großzügigsten und altruistischsten Menschen. Was bedeutet, dass die
empathischeren Exemplare – wie Lavinia zum Beispiel – die Universen der
anderen nicht besser verstehen, wie man vermuten könnte, sondern sich nur
stärker darüber im Klaren sind, wie unzugänglich sie sind. Die den Umstand
akzeptieren, dass man nichts wissen kann, oder nur sehr wenig.
Die Möwen haben die Krähen offenbar verjagt oder umgekehrt. Über den
Dächern liegt jetzt nur das ferne Rauschen der Stadt. Abgedämpft auf seinem

Free download pdf