Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

er entscheidet, welches der Mädchen auf dem Podium seine Frage öffentlich
vorlesen darf. Vor allem Fragen zu Libyen (»Ist es dort im Sommer wärmer
als in Italien?«) und seine persönlichen Vorlieben (»Wie hat Ihnen Rom
gefallen?«). Die Erste, die eine Frage zum Koran stellt, ist die junge Frau, die
ihre Ohrringe anbehalten hat und zunächst sagt, dass sie seit drei Jahren
Arabisch studiert. Es habe ihr gut gefallen, sagt sie, wie der Prophet – Friede
sei mit ihm – seine Frau Kadigia behandelt habe, doch war sie schockiert
über das zarte Alter Aishas, in dem er sie geehelicht habe. Der Dolmetscher
lässt den zweiten Teil weg. Der Libyer erwidert, dass die Liebe des
Propheten – Friede sei mit ihm – zu seinen Frauen so rein und brennend war
wie eine Flamme. Die junge Frau will sich wieder setzen, doch der Libyer
streckt die Hand nach ihr aus und winkt sie herbei. Sie bereut, sich gemeldet
zu haben. Sie steht starr auf der Bühne, und Aluminium-Kopf sieht sie
mahnend an. Sie nähert sich dem Ledersessel wie einem Hyänenkäfig. Das
behaarte Handgelenk des Libyers kriecht unter dem Kaftan hervor, die Finger
strecken sich aus und fahren ihr sanft über die Haare. Langsam, schmierig.
Das Mädchen fühlt sich an einen Salamander ihrer Kindheit erinnert, bei den
Großeltern auf dem Land, den sie versehentlich totgetreten hatte. Dann zieht
der Libyer seine Hand zurück, der Dolmetscher verabschiedet das Mädchen
mit einer Kopfbewegung, und sie geht auf leisen Sohlen die Stufen hinab.
Das Mädchen gehört zu den wenigen, die sich an die Kleidervorschrift
der Agentur gehalten haben. Die mit dem Medaillon in der ersten Reihe
sehen aus, als seien sie den erotischen Träumen eines Bankangestellten
entsprungen: weiße Blusen, aufgeknöpft bis weit unter den BH-Saum,
schwarze enge Miniröcke, die kaum ein Drittel der Schenkel bedecken, tief
ausgeschnittene Lackschuhe wie eine männerfressende Gottesanbeterin. Als
sie die Stufen hinabsteigt, sieht das Mädchen diese Reihe nackter Beine, eine
Parade, die der Oberst mit finsterer Miene abnimmt, während er den Koran
lehrt.
Auf dem Weg zu ihrem Platz denkt sie an die fünfundachtzig Euro, die
die Agentur ihr pro Tag zahlt. Das ist ein Viertel der Monatsmiete für ihr
Zimmer mit Badnutzung in der Nähe von Tor Sapienza. Und sie denkt an das
Shampoo, mit dem sie sich sofort die Haare waschen wird, wenn sie heute
Abend nach Hause kommt.
berli17

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