Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

nur kann. Stellen Sie sich vor, nicht einmal meiner Mutter bin ich dankbar,
die mich doch geboren hat. Nur in sehr seltenen Momenten der Gnade widme
ich meinem Herrgott einen derartigen Gedanken. Also nein, lieber Profeti, ich
bin Ihnen nichts schuldig. Auch nicht, wenn Sie mir das Leben gerettet
haben.«
Was sagt man, wie antwortet man auf eine Demütigung? Attilio wusste es
nicht, nie zuvor hatte er das erlebt. Also schwieg er. Er schob stumm den
Sessel zurück und wollte aufstehen. Es war klar, dass er einen Fehler
begangen hatte.
»Was denn, Sie wollen schon gehen?«, fragte Casati völlig ironiefrei.
»Ich dachte, Sie suchen Arbeit.«
Attilio verharrte in einer unnatürlichen Position. Die Beine wiesen schon
zur Tür, das Gesicht Richtung Schreibtisch. »Ich verstehe nicht ...«
»Bleiben Sie sitzen, Profeti«, sagte Casati. Als er »bitte« hinzufügte,
merkte Attilio leicht verstimmt, dass er schon gehorcht hatte. Er fühlte sich
wie ein Kleidungsstück. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn der andere die
Hand ausgestreckt hätte, um wie bei einem Stoff die Konsistenz seiner Haut
zu prüfen.
»Sehen Sie, nach unserer ersten Begegnung, wegen der ich Ihnen dankbar
sein müsste und es nicht bin, habe ich mich ein wenig umgehört. Über Sie.
Und verschiedene Dinge entdeckt. Einige davon würde man vielleicht lieber
vergessen in unserer auf dem Antifaschismus gegründeten Italienischen
Republik. Andere sind schon vergnüglicher. Wie die ... wie haben Sie das
nochmal genannt? Operation Morbus Hansen. Wissen Sie eigentlich, dass in
manchen Diplomatenkreisen immer noch darüber gelacht wird?«
»Wirklich? Das ist lange her.«
»Tja, wissen Sie, in jenen Jahren hatte die italienische Diplomatie im
Völkerbund nicht gerade viele geglückte Unternehmungen zu verzeichnen.
Und danach auch nicht, um ehrlich zu sein. Aber nicht deswegen habe ich
vor, Sie einzustellen.« Den letzten Satz sagte er in beinah beiläufigem Ton.
Attilio war nicht so beglückt, wie er es sich vorgestellt hatte. Vielleicht
reagierte er deshalb zurückhaltend: »Aha. Und warum dann?«
»Weil Sie nicht nur skrupellos sind. Vor allem haben Sie Glück und
sehen gut aus. Zwei Qualitäten, die immer wichtiger werden für denjenigen,
der seine soziale Stellung verbessern möchte.«
Attilio hatte kurz das Gefühl, wieder mitten im Wald auf dem Apennin zu

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