Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

stehen. Der Blick von der anderen Seite des Schreibtischs war derselbe wie
damals, als sie zusammen dem Tod entronnen waren. Wie die Wasserwaage
eines Landvermessers: perfekt austariert und bereit zum Einsatz.
»Fassen wir also zusammen.« Edoardo Casati atmete tief durch. »Ich
biete Ihnen ein gutes Gehalt und exzellente Aufstiegschancen. Ich biete Ihnen
aber nicht meine Dankbarkeit und genauso wenig mein Vertrauen. Das gibt
es nur zwischen Gleichrangigen, und das sind wir beide nicht. Sie sind der
Sohn eines Bahnhofsvorstehers, in meinen Adern fließt das Blut von sieben
Päpsten. Sie verstehen sicher, dass keiner von uns je darüber hinwegsehen
kann.« Seine Lippen pressten sich aufeinander wie zwei Hände, die eine
Stechmücke zerquetschen.
Attilio brauchte einen Moment, bis ihm aufging, dass dies ein Lächeln
war.


Nicht lange danach bot sich Attilio Profeti die erste Gelegenheit, dem neuen
Arbeitgeber seine Qualitäten unter Beweis zu stellen. Die Firma Casati
gehörte zu den verschiedenen Satellitenunternehmen einer viel größeren
Gesellschaft, die seit Jahrzehnten in schöner Kontinuität zum Faschismus die
Stadtentwicklung dominierte. Sie war bereits Hauptakteur in der Ewigen
Stadt, als jene gerade erst Hauptstadt des vereinigten Italien geworden war,
und hatte dort, wo vorher Campagna gewesen war, ganze Stadtviertel
errichtet. Viele der zu Beginn des Jahrhunderts und in den zwei Jahrzehnten
des Faschismus neu entstandenen Straßenzüge trugen die Namen von
Kolonien – Viale Libia, Via Eritrea, Via Dire Daua –, die nach dem Krieg
trotz des doppelten Endes von Faschismus und Überseebesitzungen niemand
ändern wollte. Auch nicht solche, die wie Viale Amba Aradam nach
Massakern benannt waren.
Unter dem willfährigen Schutz des regierenden Bürgermeisters war ein
Großteil der reichen kommunalen Geldmittel für den Wiederaufbau an die
riesige Immobiliengesellschaft geflossen. In ihr vereinigten sich stark und
mächtig wie Stahlbeton die Interessen der römischen Kurie, der alten
römischen Adelsfamilien, denen aufgrund der Geschichte die Flächen der
römischen Campagna gehörten, und einer neuen Generation skrupelloser
Spekulanten. Edoardo Casati repräsentierte diese drei Welten in
Personalunion. Er hatte das richtige Blut, die richtigen Verbindungen und
auch die richtige Persönlichkeit. Daher machte die nach ihm benannte Firma

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