Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

äußerlich so schmerzlich ähnelte, ihm noch ferner war als damals, als er in
Afrika war. Das Leben in den römischen Palazzi, das er jetzt lebte, konnte der
alte Bahnhofsvorsteher sich noch weniger vorstellen als das in Abessinien.
Doch etwas Gutes hatte Attilio für seinen alten Vater getan. Er hatte ihm als
Geschenk aus der Stadt einen dieser neuen Plattenspieler im grauen
Plastikkoffer mitgebracht. So konnte er seine Witwerwohnung abends mit
den herzzerreißenden Arien der Aida, Gilda, Violetta und Mimì füllen. Der
sichere Tod all dieser Frauen weckte keine Traurigkeit in ihm, sondern das
Gefühl, weniger allein zu sein. Weniger fremd gegenüber dem Rest der
Menschheit durch seinen unergründlichen Verlust, Violas Tod.
Seine Zeit war vorbei, das allein wusste Ernani. Er senkte den Kopf.
Neben seiner Fußspitze war eine Weiche, mit drei Abzweigungen: Von der
geraden Trasse zweigten zwei Spuren ab, eine rechts und eine links. Das Rot
des Klatschmohns, das mit ein paar Grashalmen aus der Böschung leuchtete,
verlieh der Effizienz dieses Knotenpunkts eine unerwartete Fleischlichkeit.
Ernani betrachtete den Mechanismus eingehender als je zuvor. Vielleicht lag
es daran oder an seinem letzten Tag als Eisenbahner, dass er etwas bemerkte,
das er offensichtlich schon immer gewusst, aber nie beachtet hatte. Im
Herzen des Fächers aus Zungen – die scharfen Stahlspitzen der Schienen, die
dort aufeinandertrafen und erstarben –, genau an dem Punkt des materiellen
Übergangs von dem Spurkranz des Rades war Leere. Sie hatte auch einen
Namen, diese Leere, der ihm vertraut war wie jeder andere Aspekt seines
Berufes: Herzstücklücke. Doch plötzlich packte Ernani eine Unsicherheit, als
hörte er die Bezeichnung zum ersten Mal. Als bemerkte er erst jetzt, nach
einem halben Jahrhundert im Dienst, dass im Zentrum der Weiche, die in der
Mitte des Mechanismus lag, der der Kernpunkt dieser lärmenden Welt aus
Maschinisten mit in die Ferne gewandtem Blick, aus um die Kohle
herumspringenden Heizern, Rangierern, Signalgebern, Schaffnern,
Zugführern, Wagenmeistern, Mechanikern, Elektrikern, Streckenwärtern,
Betriebsführern und Ingenieuren war, wie auch aus Passagieren und Waren,
deren Transport das eigentliche Ziel für die Existenz alles anderen war, im
Herzen der Weiche also, die das ganze italienische Schienennetz erst möglich
machte, vom Brenner bis Reggio Calabria, nichts war. Nur eine kleine,
absolut vollkommene Leere.
Ernani spürte, wie seine Knie nachgaben. Der Muskel in seiner linken
Brust, der sich den Namen mit diesem schlichten Meisterwerk des

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