Gelände getragen hatte: »Peace! Peace!«, riefen sie – was für ein
wunderbares Wort, Frieden. Selbst die Wachen hatten sich einen Moment der
Freude gegönnt, und Otello, der seit drei Jahren vergessen hatte, wie lächeln
geht, erlaubte sich einen Gedanken des Glücks: Endlich würde er nach Hause
zurückkehren. Doch Wochen verstrichen, dann Monate, und nichts geschah.
Alle anderen Internierungslager wurden geräumt, die Häftlinge nach Hause
geschickt, außer denjenigen, die gut bezahlt in Fabriken gearbeitet hatten und
ein hübsches Mädchen aus dem Westen kennengelernt hatten, das sie zum
Bleiben überredete. Das wunderschöne Wort jenes Tages im August hatte
einen bitteren Klang bekommen. Die ganze Welt feierte, und sie waren
immer noch hier, starben vor Hunger, warteten, dass der Staub der Minuten
und Tage sich auf die Ebene herabsenkte, fraßen Spitzmäuse, während ein
schlimmer Zweifel immer mächtiger wurde: »Wir kommen niemals nach
Hause.« Doch wann immer er versucht hatte, jemandem von der
Verzweiflung der letzten Monate zu erzählen, hatte es geheißen: »Ach, red
doch nicht, im Vergleich zu dem, was anderen passiert ist, war das doch
reiner Luxus.«
Das Mädchen aus Chioggia, oben blond und unten dunkel, hatte
begriffen, dass Otello deshalb ins Bordell gekommen war: um zu weinen, in
ihre Halsbeuge zu schniefen und sich festhalten zu lassen und nur ein Mal,
ein einziges Mal, eine andere Antwort zu hören als »was jammerst du rum,
dir ging’s doch noch gut«.
Mit einer Zärtlichkeit, die sie nicht mehr in sich gespürt hatte, seit ihre
einjährige Tochter nach einem Bombardement in ihren Armen verblutet war,
strich das Mädchen ihm über das Haar. »Armer Kerl«, wiegte sie ihn leise,
»du armer Kerl. Da ist es dir aber wirklich dreckig gegangen.«
Danach versuchte Otello nie mehr zu erklären, was im Gefangenenlager
der Nicht-Kooperierer in Hereford, Texas, USA, geschehen war. Auch nicht,
als er als Eisenbahningenieur abgelehnt wurde, weil er im »Faschistenlager«
gewesen war, und stattdessen in einer Berufsschule Bauwesen und Physik
unterrichten musste. Und auch nicht dem jungen Mädchen, die seine Frau
wurde, so gern er sie auch hatte. Nie mehr sprach er darüber, in fast vierzig
Jahren seit diesem Nachmittag 1946 im Bordell von Bagnacavallo, bis zu
dem Tag, als er gegen Attilio, der ihn in allen Dingen geschlagen hatte, auch
den letzten Wettkampf verlor.
jeff_l
(Jeff_L)
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