Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

wie es ihm die Zimmervermieterin in Bologna während des Studiums
beigebracht hatte, doch lediglich aus geheimer Freude an einem Regelwerk,
das nur für ihn galt. Und zu bluffen fiel ihm leicht.
Eines Nachmittags bei seiner Rückkehr aus dem Ministerium empfing ihn
Marella mit einem Kuss, wie immer, wenn er nach Hause kam. Sie drückte
ihm die Lippen auf die Wange, die schon rau war vom Bartschatten, presste
sich an ihn, lächelte ihn dankbar an, dass der Winter seiner Abwesenheit nun
beendet war. Dann nahm sie von dem Tablett mit der Post einen hellgelben
Umschlag und reichte ihn ihm.
»Das ist für dich angekommen.«
Attilio musste gar nicht erst auf den Absender schauen. Allein die grüne
Briefmarke mit dem bärtigen Gesicht von Haile Selassie und dem Flugzeug
mit abgerundeten Formen über einem Vulkan genügte, dass ihm der Atem
stockte. Die Luft in die Lungen hinein- und hinauszuschieben wurde jäh eine
Kunst, die er nicht mehr beherrschte.
»Von wem?«, fragte Marella, die seinen Aufruhr nicht bemerkte.
»Einem Ex-Kameraden«, erwiderte Attilio. »Er ist in Äthiopien
versandet. Was gibt’s denn heute Leckeres zu Abend?«


»Signor Vater,
ich schreibe Euch, weil ich Euer Sohn bin. Wie geht es Euch? Ich hoffe, Ihr
seid wohlgemut und bei guter Gesundheit. Wie geht es Eurem Vater Signor
Ernani? Wie geht es Eurer Mutter Signora Viola? Wie Eurem Bruder Signor
Otello? Ich heiße Ietmgeta Attilaprofeti Ezezew. Ich bin elf Jahre alt. Ich lebe
bei meiner Mutter, Abeba Ezezew. Ich gehe bei den Schwestern der
Trostreichen Mutter in Addis Abeba zur Schule. Mein Lieblingsfach ist
Italienisch. Signor Carbone hat meiner Mutter Abeba Ezezew Eure neue
Adresse in Rom, Italien, gegeben ...«


Attilio hatte den Brief im Bad geöffnet. Die Wohnung war klein – ein
Zimmer, Esszimmer und Küche –, daher hatte er gewartet, bis Marella sich
an den Herd stellte. Er brauchte weniger als eine Minute, um die Handschrift
des strebsamen Schülers zu entziffern, und ließ dabei das Wasser laufen als
Rechtfertigung, dass er sich so lange im Bad einschloss. Marella fiel nichts
auf, und allmählich wehte der Duft von Risotto durch das Apartment. Attilio
ging ins Schlafzimmer und holte aus dem obersten Fach des Schrankes eine

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