Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

gesehenen Essensmengen, die Otello überzeugten, dass er auf dem Kontinent
der ungeahnten Ausmaße angekommen war: Wassermelonen so groß wie
Hutschachteln, Hühnereier, die aussahen wie von der Gans, Speckscheiben so
groß und dick wie Briketts, Milchflaschen von fast vier Litern. Als bei einer
der ersten Mahlzeiten ein Angestellter ein mit Butter beschmiertes Brötchen
für ihn ganz allein hinlegte, brach er vor Freude in Tränen aus. Mit einer
schnellen Bewegung wischte er seine Tränen ab, den Kopf gesenkt; so konnte
er die vielen Mithäftlinge nicht sehen, die sich aus dem gleichen Grund über
die Augen fuhren.
Bei ihrer Ankunft wurden sie nicht viel anders behandelt als die
Einwanderer. Bevor sie die weißen Kleider mit der Aufschrift POW auf der
Hemdtasche bekamen, vor dem Verhör zur Identifzierung, vor dem Foto und
den Fingerabdrücken für die Kartei wurden sie gewaschen, rasiert und
schließlich desinfiziert. Die Männer, die die herabwürdigende Aufgabe
hatten, ihre nackten weißen Körper mit dem Schädlingsbekämpfungsmittel
einzusprühen, waren alle von schwarzer Hautfarbe – und hüteten sich, den
Blicken der Häftlinge zu begegnen. Sie hielten die Augen gesenkt, als seien
sie die Untergebenen, was Otello verwirrte. Er und seine Kollegen waren
doch ihnen ausgeliefert und nicht umgekehrt. Er konnte sich keinen Reim auf
diese Unterwürfigkeit machen.
Auf der langen Zugfahrt, die sie nach Texas brachte, beobachtete Otello
dasselbe Phänomen. Je weiter sie Richtung Süden kamen – Virginia,
Alabama, Mississippi –, desto offensichtlicher. Das Personal, das sie in den
Waggons verpflegte, die Putzfrauen auf den Bahnsteigen, die Verkäufer von
gerösteten Maiskolben, die unter den Zugfenstern zusammenliefen, kurz alle
Menschen mit dunkler Hautfarbe, egal welchen Geschlechts oder Alters, mit
denen Otello in diesen Tagen zu tun hatte, vermieden es, ihm in die Augen zu
sehen. Wenn sie das Wort an ihn richten mussten, schien es, als fixierten sie
einen Punkt jenseits seines Blickes. Otello staunte immer mehr.
In den über zwei Jahren an der nordafrikanischen Front war ihm nie
etwas Ähnliches passiert, weder mit Verbündeten noch mit der lokalen
Bevölkerung noch mit dem Feind. Dabei hatte er immer eng mit Leuten zu
tun gehabt, die eine viel dunklere Hautfarbe hatten als er: sein somalischer
Bursche, die Askaris der Angriffsbataillone, die Zivilisten in der Kyrenaika,
in der Marmarica und Tunesien. Die Kinder in staubigen Lumpen, die bei
ihren zwischen den Felsen verstreuten Schafen standen und ihm grüßend

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