Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Der GI Clarence Watson trug die Gipsmaske aus Fuorigrotta den ganzen
Feldzug über bei sich, bis zum siegreichen Einmarsch in Mailand. Als er an
der Reling des Schiffes lehnte, das ihn nach dreißig Monaten Krieg zurück in
die Heimat bringen sollte, fiel ihm ein, dass sein Gepäck bei der Ankunft im
Vaterland inspiziert werden würde. Er stellte sich vor, wie die Hände eines
blonden Offiziers, oder zumindest eines viel weißeren Mannes, als er es war,
seinen Rucksack öffneten. Und ein Schauer durchfuhr ihn, während er die
Stimme seiner Mutter im Ohr hörte.
Als stünde sie direkt neben ihm, wiederholte sie noch einmal die
Mahnung, die er schon immer, von Kindesbeinen an, gehört hatte und nie in
seinem ganzen Leben als afroamerikanischer Mann vergessen würde (»Sieh
mich genau an, mein Sohn, deine Mutter hat es noch nie so ernst gemeint«):
Niemals und unter keinen Umständen dürfe er einen Weißen bedrohen oder
reizen oder auch nur versehentlich bedrohen oder reizen. Er erinnerte sich an
ihre Erzählungen von Peitschenhieben auf den Rücken wegen eines nicht
ausreichend unterwürfigen Blickes; von Klingen, mit denen weiße Meuten
schwarzen Männern Finger, Ohren und Genitalien abschnitten, die zwar
formal frei waren, aber keinerlei Rechte hatten; von Tauen, an denen sie an
Laternen aufgehängt wurden, von Fackeln, mit denen das Wenige angezündet
wurde, das immer noch weiteratmete.
Clarence Watson war nicht als Sklave geboren wie sein Großvater. Er
hatte gerade für sein Land den Krieg gewonnen. In den letzten Jahren hatte er
sogar einige Weiße umgebracht, mit dem Einverständnis seiner eigenen
genauso weißen Offiziere. Doch nun war der Krieg vorbei.
»Sohn, in Alabama ist es keine gute Idee, den Kopf eines Weißen im
Rucksack herumzutragen. Auch wenn er nur aus Gips ist.«
Das Schiff hatte einen Tag zuvor die Meerenge von Gibraltar passiert, als
Clarence Watson die Maske über Bord warf. Der Wind wehte sie über die
weißen Schaumkronen am Schiffsrumpf und setzte sie auf ferneren
Strömungen ab, wo die vorüberfahrenden Dampfer sie nicht störten. Sie
schwappte eine Weile auf dem Wasser, sah aus wie das Gesicht eines
Mannes, der mitten im Atlantischen Ozean schläft. Langsam saugte sie sich
mit Salzwasser voll, und die heitere Miene des perfekten Faschisten Attilio
Profeti – Attila für seine Geliebten und Kameraden – verlor zuerst die Farbe,
dann die Form, um sich schließlich ganz im Wasser aufzulösen.

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