Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

17


2010


Da ist sie wieder, diese teerig-zähe Zeit des Eingeschlossenseins an jenen
Orten, wo Gott tiefer schweigt als ein Grab. Klebrig läuft sie in das schwarze
Loch in der Brust, erfüllt sie mit Dunkelheit. Doch das hier ist nicht Libyen,
das hier ist das zivile Italien. Zum Schlafen hat man eine ganze, wenn auch
schmutzige Matratze für sich, nicht drei Fliesen. Man kann aufstehen,
umhergehen, in den Hof treten, man kann sogar rauchen, wenn man Geld für
eine Zigarette hat. Es gibt Duschen, wenn auch nur kalte. Richtige Klos, nicht
einen Eimer für hundert Leute – die Türen sind vielleicht kaputtgetreten, aber
die Spülung funktioniert in der Regel. Es gibt genug Wasser zu trinken,
niemand muss verdursten. Mahlzeiten gibt es regelmäßig, aber sie müssen
ohne Tische und Stühle auf dem Boden oder Bett sitzend eingenommen
werden. Es gibt einen offiziellen Herrenfriseur, zu dem aber niemand gehen
will – er wechselt nie die Rasierklinge. Viele lassen sich daher den Bart lang
wachsen, und der Junge ist erleichtert, dass sein Gesicht haarlos ist. Er würde
ungern wie einer der Besessenen im Sudan aussehen, die ihn anbrüllten, er
solle sofort sein Hemd zuknöpfen. Die Wächter sind mal Polizisten, mal
Carabinieri und manchmal auch – das versteht keiner – Zollbeamte, die aber
nicht die Zimmer betreten, weil, nein, das ist ja kein Gefängnis. Es ist ein
Zentrum. Und der Junge ist, wie alle anderen auch, ein Gast und kein
Häftling. Doch genau wie in dem großen Raum in Tripolis weiß auch hier
niemand, wann er wieder raus darf.
Das ist auch der Grund, warum der marokkanische Dealer, mit dem der
Junge sich die Wand für sein Bettgestell teilt, dem Knast nachweint. Dort
wurde man festgenommen und verurteilt, und dann wurde einem die exakte
Zeitspanne gesagt, die man eingesperrt sein würde. Die sich bei guter
Führung sogar noch verkürzen konnte. Hier nicht. Kein Urteil, keine Strafe,
keine Anzahl von Monaten oder Jahren. Nur mitleidsvolle Pillen aus den
Händen der Sozialarbeiter für nachts, um diese bituminöse Zeit zu vergessen,
die auf die Lungen drückt.

Free download pdf