Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Attilio schrieb seiner Mutter Viola nichts von der Begegnung mit den
Leprakranken. Dafür erzählte er ihr von einem Askari, der eine Wurst
entwendet hatte und mit dreißig Hieben der Lederpeitsche bestraft wurde,
denen weitere dreißig folgten, diesmal auf die nackte Haut, weil er beim
ersten Mal Hose und Jacke mit Lappen ausstaffiert hatte, um den Schmerz zu
mildern. »Trotz aller Achtung und Vorsicht, mit der wir unsere Männer
behandeln«, kommentierte Attilio dies, »können wir uns im entscheidenden
Moment Gehör verschaffen. Sie sollen wissen, dass wir Italiener milde sind,
anders als die bisherigen Herren, mit denen sie es zu tun hatten, doch
manchmal braucht es Taten statt Worte.«
So klangen seine Briefe an die Mutter in der Regel: Überlegungen,
Gedanken, Ideale. Denn Attilio vergaß nicht den Grund, warum er freiwillig
nach Afrika gegangen war. Gabriele D’Annunzio hatte gerufen: »Äthiopien
ist seit jeher italienisch!«, und er setzte die Worte des Dichterfürsten um.
Wenn er mit baumelnden Beinen auf der Ladefläche eines Lastwagens
mitfuhr, war er ganz erfüllt von Stolz. Die meda, die höchste Fläche des
Hochplateaus, war in manchen Abschnitten so flach wie die Gegend von
Lugo, aber durchzogen von jähen Schluchten, die tief in die Flusstäler
hinabfielen. Von diesen Steilhängen aus schien man ganz Afrika zu
überblicken, ein ockerbraunes Meer, auf dem die Ambas trieben. Er fühlte
sich an die Heimat von Fuß des Windes erinnert, nur dass hier keine
federgeschmückten Navajos auftauchten wie in seinem geliebten Kinderfilm,
sondern abessinische Schafhirten, die sich einbeinig auf ihre Stöcke stützten
und ihm fremder und ferner vorkamen als Tiere. Attilios Blick war von dem
Paradoxon des Besatzers geprägt: In den Menschen, auf die er traf, sah und
suchte er nicht die gemeinsame menschliche Natur; in der Landschaft
jedoch – in jedem Stein, jeder Wolke, jedem Schrei eines Schakals – erkannte
er die lebendige und wortreiche Botschaft des eigenen erhabenen Schicksals.


Nun, da die Söhne von zu Hause weg waren, hatte Viola nicht mehr viel zu
tun. Für Ernani alleine hatte sie schnell gekocht, so dass sie die Vormittage
häufig im Kino von Lugo verbrachte. Sie schaute sich dreimal hintereinander
denselben Film an, am meisten interessierten sie aber die Wochenschauen
zwischen den Vorführungen, die sie sich ganz genau ansah in der Hoffnung,
das schöne Gesicht ihres Sohnes zu erkennen, diese geliebten Züge eines
Hauptdarstellers.

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