Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

möglichst viele Fotos verschiedener Negertypen nötig, etwa ein Foto vom
groben Gesicht eines Primitiven, um die Italiener von der durch das Blut
vorgegebenen Rangordnung zwischen den Rassen zu überzeugen.
»Und dass ich viele schöne, haarsträubende Fotos zu sehen bekomme«,
hatte Interlandi ihm vor seiner Abreise aufgetragen.
»Ich mache weder schöne noch haarsträubende Fotos«, hatte Cipriani
erwidert. »Ich bin ein Mann der Wissenschaft und mache wissenschaftliche
Fotos.«
Dennoch folgte der Anthropologe ab und zu Interlandis Ratschlag. Ein
einfaches Prinzip war es, die Subjekte mit dem Gesicht der prallen Sonne
auszusetzen, so dass sie die Augen zusammenkneifen mussten, was den Blick
jeglicher Intelligenz enthob. Wenn er einen kurzen Schrei ausstieß, bevor er
auf den Auslöser drückte, versteinerten ihre Mienen zu einem raubtierhaften
Ausdruck. Wenn er die Augen zur Seite rollte, imitierten sie ihn und zogen
die Miene eines Faulpelzes. Bei den Frauen genügte es, sie barbusig
abzulichten, um dem italienischen Leser ihre primitive Barbarei vor Augen
zu führen. In dem Bruchteil der Sekunde, in dem sich die Linse öffnete, war
Cipriani der absolute Herrscher über ihre Physiognomie – eine
vorübergehende, aber tiefgreifende Macht, aus der er klammheimliche Freude
zog.
Im Laufe der Expedition lichtete Cipriani etwa neunhundert Personen ab.
Was bemerkte er, das über Maße, Formen und Farben des Teints hinausging?
Eine junge Frau hatte weich gezeichnete Lippen und deutlich geformte
Wangenknochen; über den Arm eines alten Mannes verlief eine Narbe, die
wie eine Schlange aussah; bei einem Mädchen sah man auf dem Foto nur das
Augenweiß, weil sie den Blick gerade zu ihrem Brüderchen auf ihrem
Rücken gewandt hatte. Ein Mann hielt die Leica für eine Feuerwaffe und riss
schreckerfüllt die Augen auf, als Cipriani auf den Auslöser drückte; einer
Muslimin zitterte vor Scham, ihr Kleid herunterzuziehen, das Kinn. Vielleicht
bemerkte Cipriani solche Details, während er seinen Untersuchungsobjekten
ins Gesicht sah, vielleicht auch nicht. In seine Notizbücher schrieb er
jedenfalls nichts davon. Und bis auf die wenigen Anweisungen, die er über
den Dolmetscher gab, wechselte er mit keinem von ihnen ein Wort.
Die wichtigsten Stücke in Ciprianis Kollektion, wissenschaftliche Belege
und sein ganzer Stolz, waren die Gipsmasken von Gesichtern. Viele hatte er
bereits bei seinen früheren Expeditionen nach Afrika sammeln können. Er

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