Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

hatte, was in Abessinien zu tun war. »Radikale Säuberung« hatte er ihm noch
am Abend des Attentats telegrafiert. Weise Worte, die Graziani getröstet
hatten in seinem Hundeelend aus Schmerz und Todesangst. Ja, radikale
Säuberung: Das konnte er, das hatte er schließlich schon in der Kyrenaika
getan. Er wusste, wie mit Rebellen umzugehen war, anders als die feinen
Herren von der Militärakademie, die nur den Frontenkrieg kannten, die
Schachzüge der Bataillone. Es genügten zwei Worte: kollektive
Verantwortung. Ein Bandit greift einen Lastwagen an? Dann mache sein Dorf
dem Erdboden gleich, erschieße die Männer und überlasse die Frauen deinen
Soldaten. In einer Oase verstecken sich Bewaffnete? Dann lasse aus einer
Caproni einen schönen Yperit-Regen darauf niedergehen. Und alle anderen
stellst du auf die Felder, wo sie keinen stören, fernab der Karawanenstraßen,
ein einziger Brunnen für zehntausend Leute. Eine Begrenzung aus
Stacheldraht rund um das Lager, ein paar Löcher als Latrinen. Einmal hatte er
in der Kyrenaika einen Erkundungsflug gemacht, und was er sah, hatte ihm
gefallen. Die geraden Linien der Zelte formten perfekte Quadrate in die leere
Sahara, dieselbe rechtwinklige Präzision der Castra Praetoria, mit denen Rom
tausend Jahre lang die Welt beherrscht hatte. Nur eben mitten im Nichts, und
nicht mit Zenturios, sondern Beduinen bevölkert, viele Tausend Männer,
Frauen und Kinder mit nichts um sich herum als dieser ungesund gelben
Fläche. Der rechte Ort für Aufständische – das Nichts.
In seinem Krankenhausbett in Addis Abeba lächelte Graziani in sich
hinein, als er an den Satz dachte, den er einer spontanen Eingebung folgend
an jenem Tag auf das Tor in der Wüste hatte schreiben lassen: DEN
ARABERN IST ES NICHT VERBOTEN ZU STERBEN.
In den Jahren danach war mehr als ein Drittel der gut hunderttausend
eingesperrten Senussi in den italienischen Konzentrationslagern in Libyen
genau dieser einzig explizit erlaubten Aktivität nachgegangen. Unterstützt
von Durst, Hunger, Flecktyphus und anderen Krankheiten, zubetonierten
Brunnen und zahlreichen Hinrichtungen. Kurz bevor sie geschlossen wurden,
war sogar noch eine deutsche Delegation vorbeigekommen und hatte ihre
perfekte Organisation bewundert. Die Deutschen hatten sich zahlreiche
Notizen gemacht im Hinblick auf eventuell anstehende Notwendigkeiten
(über deren Gründe sie sich nicht genauer auslassen wollten), selbst ebenso
gut strukturierte Lager errichten zu müssen.
Und so wurde die Kyrenaika befriedet.

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