Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Der Großvater war aber vor allem streng mit sich selbst. Er behandelte
den eigenen Körper wie einen ungeliebten Gast, den er gerne losgeworden
wäre: Er hungerte ihn aus, indem er wochenlang nichts aß, in der heißen
Jahreszeit gelobte er, ganze Tage nichts zu trinken, rezitierte mit glänzenden
Augen Heiligengeschichten, deren Martyrien bei den Hinrichtungen er bis ins
kleinste Detail beschrieb. Im Dorf war bekannt, dass er hin und wieder mit
Engeln sprach, vor allem in den Tagen des Fastens, und manch einer ging zu
ihm und bat ihn, von diesen Unterhaltungen zu erzählen. Doch nicht alle
verstanden, was er sagte, denn seine Worte waren sowohl Gold als auch
Wachs. Abeba aber begriff ihre wahre Bedeutung, die nicht für Tölpel
gedacht war, und das machte sie stolz.
»Du wirst deinen Malztrank nicht mehr finden«, erwiderte der Großvater
rätselhaft einem Mann, dem er einen Traum deuten sollte. Der Mann ging
kopfschüttelnd von dannen, während die Enkelin genau wusste, was er ihm
gesagt hatte: »Deine Geliebte hasst dich, von heute an wird sie dich
abweisen.«
Die kleine Abeba litt also nie wie die anderen Enkel unter der asketischen
Härte der Peitsche. Kurz bevor er starb, richtete der Großvater auf die Frage,
wie ihr eigener Schutzengel aussehe, mit nie gekannter Güte seinen Blick auf
sie.
»Er sieht genauso aus wie du«, sagte er, »doch in seinen Augen strahlt
das Licht des Himmels und zwischen seinen Fingern das göttliche Feuer.
Dein Schutzengel dient dir weniger als Beschützer denn als Spiegel.«
Abeba hatte noch nie einen Spiegel gesehen. Im ganzen Dorf gab es
keinen. Manchmal erblickte sie den Widerschein einer Gestalt auf dem Grund
des Brunnens, an dem sie mit ihren Freundinnen Wasser holte. Ihre Züge
waren verzerrt und dunkel, sie hob die Arme, wenn sie sie hob, und Stirn und
Nase waren von der hochstehenden Sonne erhellt. Von ihr erfuhr sie nichts,
was sie nicht schon wusste. Wie jeder andere im Dorf fand auch sie das
einzig wahre Abbild von sich selbst in den Augen der anderen. Und da man
ihr oft sagte, dass sie ein hübsches Mädchen sei, sah sie sich auch so.
Während sie sich die wenigen Male, die sie ausgeschimpft wurde, hässlich
fühlte, abgrundtief hässlich, schrecklicher als der Drache mit schwarzem
Blut, den der Heilige Georg gevierteilt hatte.
›Wie sieht ein Spiegel aus?‹, hätte sie daher gerne den Großvater gefragt.
Doch zu oft hatte sie gesehen, wie der Stock auf dem Rücken dessen landete,

Free download pdf