Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Boden der Liebe / Hör meinen süßen Gesang! / Über deine Türme erheb die
Trikolore / zum Kanonenklang! Und nicht einmal zwei Jahre, seit diese
Kinder, die nun eher Erdschollen als Männern glichen, mit dem Hohngesang
auf die drei Kaiser an die Front zogen: Guglielmone, Cecco Beppe e
Maometto / gli Alleati v’allargheran lo stretto! Und doch schien das hundert
Jahre her zu sein.
Nun, wo der Piave und der Isonzo nach und nach die Kriegsversehrten
und die Todesurkunden an die Familien zurückschickten, wurde Ernani
immer klarer, was das Schicksal ihm erspart hatte – doch zugleich war es
täglich schwerer zu ertragen. Während die jungen Ehefrauen von Lugo um
ihre Männer und Söhne weinten, die es in den Voralpen in Stücke gerissen
hatte, legte er sich abends in das warme Bett neben seine Frau. Das erschien
ihm ein Affront gegen das Vaterland. Doch wann immer ihm ein Heimkehrer
seine Armstummel zeigte, bekam Ernani weiche Knie vor Dankbarkeit, dass
er das nicht erleben musste.
Sein bereits verstorbener Großvater war Fuhrmann im Pavaglione
gewesen, dem großen Markt, und hatte oft erzählt, wie Giuseppe Mazzini
Mitte des vorigen Jahrhunderts im Theater Rossini von Lugo zu der Menge
gesprochen hatte. Sein stadtbekannter Vater Aroldo, der Wache gehalten
hatte, als der Dichter Olindo Guerrini den antiklerikalen Gedenkstein an der
Festung angebracht hatte, hatte zum ungezählten und endgültig letzten Mal
auf seinem Totenbett den Satz wiederholt, dem er seinen Spitznamen
verdankte. Der Priester, den seine besorgte Frau eilig für die letzte Ölung
herbeigerufen hatte, wurde von ihm mit dem Schrei verjagt: »Die Kirche
toleriert nicht einen Hauch von Freiheit!« Zufrieden, dass dies als seine
letzten Worte in Erinnerung bleiben würde, und in Sorge, ihnen mit weiteren
ihre Wirkung zu nehmen, hauchte der Toleriertnicht sein Leben aus.
Auch Ernani war Republikaner und Pfaffenhasser wie seine Vorväter und
bis zum italienischen Kriegseintritt auch Pazifist. Nun aber kehrten die
Gerippe seiner Altersgenossen vom Schlachtfeld zurück, das ihm erspart
geblieben war, und er konnte ihrem Opfer nicht länger das Einzige
verwehren, was es haben konnte, nämlich einen Sinn. Er würde nicht
weiterhin behaupten, dieser Krieg sei ein großer Irrtum.
Als Fahrkartenverkäufer am Bahnhof bekam er einen jungen Mann
namens Rizzatello Beniamino zugesellt, der zwei Jahre auf den Hochebenen
gedient hatte. Er kam von der anderen Seite des Flusses, aus dieser

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